Orientierung (Mathematik)
Die Orientierung ist ein Begriff aus der linearen Algebra und
der Differentialgeometrie.
In einem -dimensionalen
Raum haben zwei geordnete Basen
die gleiche Orientierung, wenn sie durch lineare
Abbildungen mit positiver Determinante
der Abbildungsmatrix (zum Beispiel Streckungen
und Drehungen) auseinander
hervorgehen. Sind zusätzlich Spiegelungen
erforderlich, so ist die Determinante negativ und die Basen sind nicht gleich
orientiert.
Es gibt zwei mögliche Orientierungen, ein Wechsel zwischen den Orientierungen ist durch Drehungen nicht möglich. Anschauliche Beispiele:
- Eindimensional:
- Leserichtung von Zeichenketten (siehe auch Palindrome) oder Einzelstrang-Nukleinsäuren
- In der Ebene:
- Spiegelschrift hat eine andere Orientierung als Schrift.
- Uhren drehen sich rechtsherum im Uhrzeigersinn und nicht linksherum.
- Im Raum:
- Mein Spiegelbild hat eine andere Orientierung als ich.
- Schrauben mit Rechtsgewinde haben eine andere Orientierung als Schrauben mit Linksgewinde.
Dabei ist zu beachten, dass die Beispiele der Ebene im Raum keine verschiedene Orientierung haben, weil sie keine räumliche Tiefe besitzen.
Orientierung eines Vektorraums
Definitionen
Sei
ein endlichdimensionaler
-Vektorraum
mit zwei geordneten Basen
und
.
Dazu gibt es eine Basiswechselsmatrix
,
die den Übergang von der einen Basis in die andere beschreibt. Ist genauer
und
,
so kann man die
bezüglich der Basis
als Linearkombinationen
darstellten.
ist dann die aus den
gebildete Matrix. Diese ist als Basiswechselmatrix immer bijektiv
und hat daher eine von 0 verschiedene Determinante,
das heißt, es ist
oder
.
Ist die Determinante positiv, so sagt man, die Basen
und
haben dieselbe Orientierung. Den Basiswechsel selbst nennt man bei
positiver Determinante orientierungserhaltend, anderenfalls
orientierungsumkehrend. Da hier von der Anordnung der reellen Zahlen
Gebrauch gemacht wurde, kann diese Definition nicht auf Vektorräume über
beliebigen Körpern
übertragen werden, sondern nur auf solche über geordneten
Körpern.
Die Orientierung ist über eine Äquivalenzrelation
zwischen geordneten Basen eines -Vektorraumes definiert. Zwei
Basen
und
sind äquivalent, wenn sie dieselbe Orientierung haben. Bezüglich dieser
Äquivalenzrelation gibt es zwei Äquivalenzklassen. Dass diese Äquivalenzrelation
wohldefiniert
ist und es tatsächlich nur zwei Äquivalenzklassen gibt, sichert der Determinantenmultiplikationssatz
sowie die Tatsache, dass Basistransformationen umkehrbar sind. Man nennt nun
jede dieser beiden Äquivalenzklassen eine Orientierung. Eine Orientierung
eines Vektorraums wird also angegeben, indem man eine Äquivalenzklasse von Basen
angibt, zum Beispiel, indem man eine zu dieser Äquivalenzklasse gehörende Basis
angibt. Jede zu der ausgewählten Äquivalenzklasse gehörende Basis heißt dann
positiv orientiert, die andern heißen negativ orientiert.
Beispiel
In
sind sowohl
,
als auch
geordnete Basen. Die Basistransformationsmatrix ist somit
.
Die Determinante von
ist
.
Also sind die beiden Basen nicht gleich orientiert und Repräsentanten der beiden
verschiedenen Äquivalenzklassen.
Das lässt sich leicht veranschaulichen: Die erste Basis entspricht einem
„gewöhnlichen“ -Koordinatensystem,
bei dem die
-Achse
nach rechts und die
-Achse
nach oben „zeigt“. Vertauscht man die beiden Achsen, „zeigt“ also die
-Achse
nach oben und die
-Achse
nach rechts, dann erhält man eine zweite Basis mit anderer Orientierung.
Ähnlich kann man auch im dreidimensionalen Anschauungsraum (mit einem festgelegten Koordinatensystem) von Rechts- und Linkssystemen sprechen, die sich mit der Drei-Finger-Regel unterscheiden lassen.
Homologische und kohomologische Orientierung
Mit
wird weiterhin ein reeller
-dimensionaler
Vektorraum bezeichnet und mit
die relative
Homologie des Raumpaars
.
In der Homologietheorie
wurde gezeigt, dass ein Isomorphismus
existiert. Die Wahl einer Orientierung für
entspricht daher der Wahl eines der beiden Erzeuger von
.
Dafür betrachtet man eine Einbettung
des -dimensionalen
Standardsimplex
nach
,
welche das Baryzentrum
nach
(und demzufolge die Seitenflächen nach
)
abbildet. Eine solche Abbildung ist ein relativer Zykel und repräsentiert einen
Erzeuger von
.
Zwei solcher Einbettungen repräsentieren genau dann denselben Erzeuger, wenn sie
beide orientierungserhaltend oder beide nicht orientierungserhaltend sind.
Weil
dual zu
ist, wird durch eine Orientierung und die zugehörige Wahl eines Erzeugers von
auch ein Erzeuger von
festgelegt.
Orientierung einer Mannigfaltigkeit
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Definition (mittels des Tangentialraums)
Eine Orientierung
einer
-dimensionalen
differenzierbaren
Mannigfaltigkeit
ist eine Familie von Orientierungen
für jeden einzelnen Tangentialraum
,
die in folgendem Sinne stetig vom Fußpunkt
abhängt:
Zu jedem Punkt
existiert eine auf einer offenen Umgebung
von
definierte Karte
mit Koordinatenfunktionen
,
…,
,
so dass an jedem Punkt
die durch die Karte im Tangentialraum
induzierte Basis
bezüglich
positiv orientiert ist.
Eine Mannigfaltigkeit ist orientierbar, falls eine solche Orientierung existiert. Eine äquivalente Charakterisierung von Orientierbarkeit liefert der folgende Satz:
ist genau dann orientierbar, wenn ein Atlas
von
existiert, so dass für alle Karten
mit nichtleerem Schnitt
und für alle
im Definitionsbereich
von
gilt:
Hierbei bezeichnet
die Jacobi-Matrix.
Koordinatenfreie Definition
Sei
eine glatte,
-dimensionale
Mannigfaltigkeit. Diese Mannigfaltigkeit ist genau dann orientierbar, wenn auf
eine glatte, nicht-degenerierte
-Form
existiert.
Homologische Orientierung einer Mannigfaltigkeit
Sei
eine
-dimensionale
(topologische) Mannigfaltigkeit und
ein Ring. Mit Hilfe des Ausschneidungsaxioms
für eine Homologietheorie
erhält man:
Eine -Orientierung
auf
ist eine Auswahl von Erzeugern
mit folgender Kompatibilitätsbedingung: Für jedes
gibt es eine offene Umgebung
und ein Element
,
so dass für alle
die von der Inklusion von Raumpaaren induzierte Abbildung auf der Homologie
das Element
auf
abbildet.
Beispielsweise stimmt der Begriff der
-Orientierung
mit dem gewöhnlichen Orientierungsbegriff überein. Für andere Ringe kann man
allerdings andere Ergebnisse erhalten; so ist zum Beispiel jede Mannigfaltigkeit
-orientierbar.
Verallgemeinerte Homologietheorien
Sei
eine durch ein Ringspektrum
gegebene (reduzierte) verallgemeinerte
Homologietheorie. Wir bezeichnen mit
das Bild von
unter dem iterierten Einhängungs-Isomorphismus.
Für eine geschlossene
-Mannigfaltigkeit
,
einen Punkt
und eine offene Umgebung
sei
eine stetige Abbildung, die ein Homöomorphismus auf
und konstant auf dem Komplement von
ist. Dann heißt eine Homologieklasse
eine -Orientierung
oder
-Fundamentalklasse,
wenn
für alle
gilt. Für die singuläre
Homologie stimmt diese Definition mit der obigen überein.
Orientierung eines Vektorbündels
Eine Orientierung
eines Vektorbündels
ist eine Familie von Orientierungen
für jede einzelne Faser
,
die in folgendem Sinne stetig vom Fußpunkt
abhängt:
Zu jedem Punkt
existiert eine offene Umgebung
von
mit lokaler
Trivialisierung
,
so dass für jedes
die durch
definierte Abbildung von
nach
orientierungserhaltend ist.
Eine Mannigfaltigkeit ist also genau dann orientierbar, falls ihr Tangentialbündel orientierbar ist.
Kohomologische Formulierung: Für ein orientierbares -dimensionales
Vektorbündel
mit Nullschnitt
gilt
für
und es gibt einen Erzeuger von
,
dessen Einschränkung auf
für jedes
der gewählten Orientierung der Faser
entspricht.
Die einer gewählten Orientierung entsprechende Kohomologieklasse
heißt Thom-Klasse oder Orientierungsklasse des orientierten Vektorbündels.
Alternativ kann man auch den Thom-Raum
verwenden, dessen Kohomologie
zu
isomorph ist. Die Thom-Klasse entspricht dann dem Bild des (bzgl. Cup-Produkt) neutralen
Elementes
unter dem Thom-Isomorphismus
.
Kohomologische Orientierung (Verallgemeinerte Kohomologietheorien)
Sei
eine durch ein Ringspektrum
gegebene (reduzierte) verallgemeinerte
Kohomologietheorie mit neutralem Element
.
Wir bezeichnen mit
das Bild von
unter dem iterierten Einhängungs-Isomorphismus.
Für jedes
induziert die Inklusion
eine Abbildung
.
Eine kohomologische Orientierung bzgl. der Kohomologietheorie
ist – per definitionem – ein Element
mit
für alle
.
Beispiele:
- Im Falle singulärer Kohomologie mit
-Koeffizienten
entspricht das der obigen Definition und
ist die Thom-Klasse.
- Jedes Vektorbündel ist bzgl. singulärer Kohomologie mit
-Koeffizienten orientierbar.
- Ein Vektorbündel ist bzgl. reeller K-Theorie genau dann orientierbar, wenn es eine Spinstruktur besitzt, also wenn die erste und zweite Stiefel-Whitney-Klasse verschwinden.
- Ein Vektorbündel ist bzgl. komplexer K-Theorie genau dann orientierbar, wenn es eine SpinC-Struktur besitzt.
Eine kohomologische Orientierung einer Mannigfaltigkeit ist per definitionem eine kohomologische Orientierung ihres Tangentialbündels. Milnor-Spanier-Dualität liefert eine Bijektion zwischen homologischen und kohomologischen Orientierungen einer geschlossenen Mannigfaltigkeit bzgl. eines gegebenen Ringspektrums.
Literatur
- Gerd Fischer: Lineare Algebra. 14. durchgesehene Auflage. Vieweg-Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 3-528-03217-0.
- Klaus Jänich: Vektoranalysis. 2. Auflage. Springer-Verlag, Berlin u. a. 1993, ISBN 3-540-57142-6, S. 70ff.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 25.04. 2025