Zerfällungskörper
Ein Zerfällungskörper ist in der Algebra, genauer in der Körpertheorie, ein möglichst kleiner Körper, in dem ein gegebenes Polynom in Linearfaktoren zerfällt. Ein Zerfällungskörper eines nichtkonstanten Polynoms existiert stets und ist bis auf Isomorphie eindeutig bestimmt. Der Zerfällungskörper ist eine normale Körpererweiterung des Koeffizientenkörpers eines Polynoms und, falls das Polynom separabel ist, sogar eine Galoiserweiterung. Ihre Galoisgruppe wird dann die Galoisgruppe des Polynoms genannt. Diese Begriffe lassen sich auf beliebige Familien von Polynomen verallgemeinern.
Definition
Es sei
ein Körper und
ein nichtkonstantes Polynom mit Koeffizienten aus
.
Ein Körper
heißt Zerfällungskörper von
(über
),
wenn gilt:
- Das Polynom
zerfällt über
in Linearfaktoren, das heißt
lässt sich darstellen als
-
mit
,
, und
, das heißt
wird durch Adjunktion der Nullstellen
erzeugt.
Ist allgemeiner
eine Familie von nichtkonstanten Polynomen aus
,
dann heißt ein Körper
Zerfällungskörper von
,
wenn alle
über
in Linearfaktoren zerfallen und die Körpererweiterung
von den Nullstellen der
erzeugt wird.
Existenz und Eindeutigkeit
Ist beispielsweise
ein Polynom mit rationalen
Koeffizienten, dann ist die Existenz eines Zerfällungskörpers von
einfach zu zeigen: Nach dem Fundamentalsatz
der Algebra zerfällt das Polynom im Körper
der komplexen Zahlen in
Linearfaktoren. Durch Adjunktion aller komplexen Nullstellen
von
erhält man
als einen Zerfällungskörper von
über
.
Dieses Vorgehen lässt sich verallgemeinern: Mit Hilfe des Lemmas von Zorn kann
gezeigt werden, dass es zu jedem beliebigen Körper
einen Erweiterungskörper
gibt, der algebraisch
abgeschlossen ist, zum Beispiel den algebraischen Abschluss
von
.
Ist
eine beliebige Familie von Polynomen in
,
dann zerfällt jedes
über
in Linearfaktoren. Der Durchschnitt
aller Teilkörper von
,
die
enthalten und in denen alle
in Linearfaktoren zerfallen, ist dann der kleinste Erweiterungskörper von
,
der alle Nullstellen der Polynome
enthält, also ein Zerfällungskörper der Familie
.
Der Zerfällungskörper einer Familie
ist bis auf
-Isomorphie
eindeutig bestimmt. Das bedeutet: Sind
und
zwei Zerfällungskörper von
über
,
dann gibt es einen Körperisomorphismus
mit
für alle
.
Konstruktion
Die Existenz eines Zerfällungskörpers eines Polynoms lässt sich auch ohne das
Lemma von Zorn durch eine direkte Konstruktion zeigen. Wesentlich ist dabei die
Aussage, dass für jedes nichtkonstante Polynom
ein Körper existiert, in dem
eine Nullstelle hat. Nach einer Idee von Leopold Kronecker
(Satz
von Kronecker) kann ein solcher Körper auf folgende Weise konstruiert
werden: Es sei
ein irreduzibler
Faktor von
.
Dann ist das von
erzeugte Hauptideal
ein maximales
Ideal in
und folglich ist der Faktorring
ein Körper. Für das Element
gilt
,
das heißt
ist eine Nullstelle von
und damit auch von
.
Die Existenz eines Zerfällungskörpers von
lässt sich nun leicht mit vollständiger
Induktion nach dem Grad
von
zeigen:
- Für den Induktionsanfang
ist
selbst ein Zerfällungskörper von
.
- Für
gibt es nach dem oben Gezeigten einen Erweiterungskörper
von
, in dem
eine Nullstelle
hat. In
lässt sich
zerlegen als
mit einem Polynom
vom Grad
. Nach Induktionsvoraussetzung hat
die Nullstellen
in einem Zerfällungskörper. Damit ist
ein Zerfällungskörper von
.
Eigenschaften
- Der Zerfällungskörper
einer Familie
ist im folgenden Sinne minimal: Ist
ein Körper mit
, so dass jedes Polynom
über
in Linearfaktoren zerfällt, dann gilt
.
- Der Zerfällungskörper einer endlichen Menge
von Polynomen in
ist gleich dem Zerfällungskörper des Produktpolynoms
.
- Der Erweiterungsgrad
des Zerfällungskörpers eines Polynoms
vom Grad
ist ein Teiler von
, insbesondere gilt
. Wenn
über
irreduzibel ist, dann gilt
.
- Ist
Zerfällungskörper einer Familie
, dann ist die Körpererweiterung
algebraisch und normal. Sind alle
separabel, dann ist
eine separable Erweiterung, also sogar eine Galoiserweiterung.
Beispiele
- Zerfällt ein Polynom
bereits über
in Linearfaktoren, dann ist trivialerweise
der Zerfällungskörper von
. Deshalb haben zum Beispiel die Polynome
,
oder
aus
alle
selbst als Zerfällungskörper.
- Das Polynom
zerfällt in
in Linearfaktoren:
. Der Zerfällungskörper von
ist also
.
- Analog ist der Zerfällungskörper von
mit den komplexen Nullstellen
und
der Körper
.
- Der Zerfällungskörper von
ist demnach
.
- Das Polynom
aufgefasst als Polynom mit reellen Koeffizienten, also als Element von
, hat
als Zerfällungskörper. Das zeigt, dass die Angabe des Koeffizientenkörpers eines Polynoms für die Bestimmung seines Zerfällungskörpers wesentlich ist.
- Das Polynom
hat im Körper
eine Nullstelle, aber dieser Körper ist nicht der Zerfällungskörper von
, denn die beiden anderen Nullstellen
und
in
sind nichtreell, können also nicht im reellen Teilkörper
liegen. Der Zerfällungskörper von
ist
.
Anwendungen
In der Galoistheorie
werden die Nullstellen eines Polynoms
mit Hilfe seines Zerfällungskörpers
untersucht. Dazu wird der Körpererweiterung
eine Gruppe
,
die Galoisgruppe, zugeordnet.
Die Gruppe heißt die Galoisgruppe des Polynoms
.
Nach dem Hauptsatz der Galoistheorie entsprechen die Untergruppen von
eindeutig den Zwischenkörpern
mit
.
Auf diese Weise lassen sich zahlreiche klassische Probleme der Algebra lösen,
etwa die Frage, welche Zahlen sich mit Zirkel
und Lineal konstruieren lassen oder welche Polynomgleichungen sich durch
Radikale
auflösen lassen (siehe z.B. Satz
von Abel-Ruffini).
Die Kreisteilungskörper
sind spezielle Zerfällungskörper: Die komplexen Lösungen der Gleichung
mit
sind die
-ten
Einheitswurzeln
für
.
Der
-te
Kreisteilungskörper
ist also wegen
der Zerfällungskörper des Polynoms
.
Auch die endlichen
Körper lassen sich als Zerfällungskörper darstellen: Ist
eine Primzahl, dann ist der Restklassenring
ein Körper und wird mit
bezeichnet. Für eine natürliche Zahl
hat das Polynom
in einem algebraischen Abschluss genau
verschiedene Nullstellen. Der Zerfällungskörper von
ist dann ein Körper
mit
Elementen. Man kann zeigen, dass sich auf diese Weise alle endlichen Körper
erzeugen lassen.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 02.06. 2021