Borelsche σ-Algebra
Die Borelsche σ-Algebra ist ein Mengensystem in der Maßtheorie und essentiell für den axiomatischen Aufbau der modernen Stochastik und Integrationstheorie. Die Borelsche σ-Algebra enthält alle Mengen, denen man naiverweise ein Volumen oder eine Wahrscheinlichkeit zuordnen will, schließt aber Negativresultate wie den Satz von Vitali aus.
Ihre besondere Bedeutung erhält die Borelsche σ-Algebra dadurch, dass sie auf natürliche Weise an die Struktur von topologischen Räumen und damit sowohl an metrische als auch an normierte Räume angepasst ist. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass bezüglich der Borelschen σ-Algebra alle stetigen Funktionen immer messbar sind.
Die in der Borelschen σ-Algebra enthaltenen Mengen lassen sich nur in sehr seltenen Fällen vollständig beschreiben. Es ist jedoch umgekehrt schwer, eine Menge zu konstruieren, die nicht in der Borelschen σ-Algebra liegt. Als grobe Faustregel gilt, dass sie "fast alle vorkommenden" Mengen beziehungsweise "jede Menge, die man sich konstruktiv herstellen kann" enthält.
Die in der Borelschen σ-Algebra enthaltenen Mengen werden Borel-Mengen, Borelsche Mengen oder auch Borel-messbare Mengen genannt. Die Namensgebung der σ-Algebra und der Mengen folgt zu Ehren von Émile Borel, der sie im Jahre 1898 erstmals implizit verwendete.
Definition
Gegeben sei ein topologischer
Raum ,
wobei
das Mengensystem der offenen
Mengen ist.
Dann heißt die von
erzeugte
σ-Algebra die Borelsche σ-Algebra. Sie wird mit
bezeichnet oder, wenn die Menge
aus dem Kontext ersichtlich ist, auch als
.
Es ist also
,
wobei hier
den σ-Operator
bezeichnet. Somit ist die Borelsche σ-Algebra per Definition die (bezüglich
Mengeninklusion) kleinste σ-Algebra, die alle offenen Mengen enthält.
Bemerkungen
- Die Borelsche σ-Algebra ist stets eindeutig bestimmt.
- Eine borelsche σ-Algebra ermöglicht es somit, einen topologischen Raum in kanonischer Weise mit der zusätzlichen Struktur eines Messraums auszustatten. Im Hinblick auf diese Struktur heißt der Raum dann auch Borel-Raum.
- Für metrische Räume und normierte Räume wird als Topologie von der Metrik bzw. Norm erzeugte Topologie gewählt.
- Die in der Borelschen σ-Algebra enthaltenen Mengen werden Borel-Mengen genannt. Die Klasse der Borel-Mengen ist eine Unterklasse der Klasse der suslinschen oder auch analytischen Mengen
Die borelsche σ-Algebra auf den reellen Zahlen
Die Menge
der reellen Zahlen wird üblicherweise mit der Topologie ausgestattet, die durch
die offenen Intervalle
mit rationalen
Endpunkten aufgespannt wird. Damit ist die borelsche σ-Algebra eine separable
σ-Algebra. Obwohl man in Einzelfällen auch andere Topologien auf
betrachtet, gilt diese als die kanonische Topologie auf
,
und die aus ihr abgeleitete borelsche σ-Algebra wird schlicht als die
borelsche σ-Algebra auf
bezeichnet.
Die borelsche σ-Algebra von
enthält nicht alle Teilmengen von
.
Es lässt sich sogar zeigen, dass die borelsche σ-Algebra von
gleichmächtig zu
ist, während die Menge aller Teilmengen von
eine echt größere Mächtigkeit als
besitzt.
Erzeuger
Die Borelsche σ-Algebra wird nicht direkt definiert, sondern implizit über
einen Erzeuger. Dies ist ein vorgegebenes Mengensystem ,
das die Borelsche σ-Algebra in dem Sinne erzeugt, dass sie die kleinste
σ-Algebra ist, die alle Mengen des Erzeugers erhält. Für Details siehe Erzeuger
einer σ-Algebra. Einige der möglichen Erzeuger sind die folgenden:
per Definition
oder
oder
oder
oder
oder
Insbesondere existieren offensichtlich mehrere Erzeuger für die Borelsche
σ-Algebra. Die Borelsche σ-Algebra ist aber durch die Angabe eines Erzeugers
eindeutig bestimmt. Dabei ist die Wahl des konkreten Erzeugers oft
Situationsabhängig. Häufig wählt man durchschnittsstabile
Mengensysteme als Erzeuger, da bei ihnen nach dem Maßeindeutigkeitssatz
ein Maß schon durch die Angabe der Werte auf dem Erzeuger eindeutig bestimmt
ist. Bei Verwendung von Verteilungsfunktionen bieten sich die Erzeuger
bis
an. Für Approximationsargumente werden oft die Intervalle mit rationalen Grenzen
verwendet. Insbesondere sind die hier aufgeführten Erzeuger
bis
Halbringe.
Enthaltene Mengen
Die in der Borelschen σ-Algebra enthaltenen Mengen sind reichhaltig. Sie enthält
- alle offenen Mengen, alle abgeschlossene Mengen und alle kompakten Mengen.
- alle Intervalle der Form
für
sowie
und
.
- alle Punktmengen, also Mengen der Form
für
und alle endlichen Teilmengen von
und alle abzählbar unendlichen Teilmengen von
- Aus den definierenden Eigenschaften von σ-Algebren folgt direkt, dass endliche und abzählbar unendliche Vereinigungen und Schnitte von Borelmengen wieder Borelmengen sind, ebenso die Differenz und das Komplement.
- Ist
stetig, so sind auch Urbilder von Borelmengen wieder Borelmengen. Insbesondere also auch Niveaumengen, Subniveaumengen und Superniveaumengen.
Die borelsche σ-Algebra auf den erweiterten reellen Zahlen
Teils werden die reellen Zahlen um die Werte
erweitert, man nennt dann entsprechend
die erweiterten reellen Zahlen. Sie treten zum Beispiel bei der Untersuchung von numerischen Funktionen auf. Die borelsche σ-Algebra auf den erweiterten reellen Zahlen wird dann erklärt durch
.
Sie besteht demnach aus allen Borel-Mengen auf den reellen Zahlen sowie aus
den Borel-Mengen vereinigt mit
und den Borel-Mengen vereinigt mit
.
Weitere borelsche σ-Algebren
Die borelsche σ-Algebra auf separablen metrischen Räumen
Gegeben sei ein separabler
metrischer Raum .
Die offenen Kugeln erzeugen als Basis eine Topologie, diese wird von der Metrik
erzeugte Topologie genannt. Jede offene Menge ist aufgrund der Separabilität
(welche im metrischen Fall zum zweiten Abzählbarkeitsaxiom
äquivalent ist) als abzählbare Vereinigung von offenen Kugeln zu schreiben. Die
kleinste
-Algebra,
die die offenen Kugeln enthält, enthält daher alle offenen Mengen und ist somit
gleich der Borelschen
-Algebra.
Auf den Spezialfall
und
die Euklidische
Metrik wird in den folgenden Abschnitten näher eingegangen.
Die borelsche σ-Algebra auf endlichdimensionalen reellen Vektorräumen
Auf den endlichdimensionalen Vektorräumen
wird die kanonische Topologie von den
-dimensionalen
Quadern
mit rationalen Koordinaten
und
aufgespannt. Sie ist gleichzeitig die
-fache
Produkttopologie
der kanonischen Topologie auf
.
Die von ihr erzeugte borelsche σ-Algebra heißt analog zum eindimensionalen Fall
die borelsche σ-Algebra auf
.
Auf diese Art ist auch elegant die borelsche σ-Algebra der komplexen Zahlen
erklärt: Man nutzt einfach die Vektorraumisomorphie zwischen
und
.
Teilmengen, die nicht zur borelschen σ-Algebra gehören, weisen in der Regel einen intuitiv exotischen Charakter auf. Im dreidimensionalen reellen Raum bilden die Mengen, die beim Banach-Tarski-Paradoxon Verwendung finden, ein Beispiel für solche, nicht zur borelschen σ-Algebra gehörende Teilmengen.
Die borelsche σ-Algebra auf allgemeinen topologischen Räumen
Die Eigenschaften der Borelschen σ-Algebra in beliebigen topologischen Räumen hängen wesentlich von der Struktur des topologischen Raumes ab. Allgemein lässt sich nur sagen, dass die Borelsche σ-Algebra immer alle offenen (per Definition) und alle abgeschlossenen Mengen (aufgrund der Komplementstabilität) enthält.
Je mehr Struktur der topologische Raum besitzt, umso mehr Mengen enthält dann auch die Borelsche σ-Algebra. Es gilt:
- Ist der topologische Raum ein T1-Raum, so sind alle einelementigen Mengen in der Borelschen σ-Algebra enthalten. Damit sind auch alle endlichen Mengen, alle abzählbar unendlichen Mengen und alle Mengen mit endlichem oder abzählbar unendlichem Komplement in der Borelschen σ-Algebra enthalten.
- Ist der topologische Raum ein Hausdorff-Raum (wie zum Beispiel ein metrischer Raum), so sind alle kompakten Mengen abgeschlossen und damit in der Borelschen σ-Algebra enthalten.
Produkträume und die borelsche σ-Algebra
Sind zwei topologische Räume
und
gegeben, so lässt sich die Borelsche σ-Algebra auf zweierlei Arten
definieren:
- Entweder man bildet den (topologischen) Produktraum
, versehen mit der Produkttopologie, hier mit
bezeichnet. Die Borelsche σ-Algebra auf
kann dann als die Borelsche σ-Algebra der Produkttopologie definiert werden, also als
- oder man bildet zuerst die Borelschen σ-Algebren der einzelnen
topologischen Räume und dann deren Produkt-σ-Algebra.
hier mit
bezeichnet:
Tatsächlich stimmen beide Konstruktionen in vielen Fällen überein, auch wenn
die Fragestellung auf Familien von topologischen Räumen
ausgeweitet wird. Es gilt:
- Ist
eine abzählbare Familie von topologischen Räumen, von denen jeder eine abzählbare Basis besitzt (also das zweite Abzählbarkeitsaxiom erfüllt), und sei
das topologische Produkt all dieser Räume, so ist
.
Die Borelsche σ-Algebra des Produktes ist also die Produkt-σ-Algebra der
Borelschen σ-Algebren. Die Aussage gilt also insbesondere für alle separablen metrischen
Räume und damit auch für .
Somit ist
.
Nomenklatur für bestimmte Borel-Mengen
- In der Literatur hat sich folgende von Felix Hausdorff eingeführte Bezeichnung für manche einfache Klassen von Borelmengen durchgesetzt:
- - mit
werden alle Vereinigungen von abzählbar vielen abgeschlossenen Mengen bezeichnet,
- - mit
alle Durchschnitte von abzählbar vielen offenen Mengen,
- - mit
alle Durchschnitte von abzählbar vielen
-Mengen,
- - mit
alle Vereinigungen von abzählbar vielen
-Mengen,
- - mit
alle Vereinigungen von abzählbar vielen
-Mengen,
- - mit
alle Durchschnitte von abzählbar vielen
-Mengen
- usw.
- Alle
,
,
,
,
,
,...-Mengen sind Borelmengen. Dieses Schema ermöglicht aber nicht, alle Borelmengen zu beschreiben, weil die Vereinigung von allen diesen Klassen im Allgemeinen bezüglich der Axiome einer
-Algebra noch nicht abgeschlossen ist.[1]
- In der deskriptiven
Mengenlehre bezeichnet man die offenen Mengen auch als
-Mengen, die
-Mengen als
-Mengen, die
-Mengen als
-Mengen, etc. Komplemente von
-Mengen heißen
-Mengen; so sind etwa die
-Mengen genau die
-Mengen.
Anwendung
Die Menge
zusammen mit der borelschen σ-Algebra ist ein Messraum und liegt den Borelmaßen als solcher
zugrunde. Alle Elemente der borelschen σ-Algebra (die selbst Mengen sind) werden
Borel-messbar genannt; nur diesen werden durch ein Borel-Maß Werte
zugeordnet.
Anmerkungen
- ↑
Bei
z.B. ist es erst unter Zuhilfenahme von transfiniten Ordinalzahlen möglich, dieses System auf solche Weise fortzusetzen, dass alle Borelmengen von ihm erfasst werden (bairesche Klassen: Verbindung zu den borelschen Mengen). Es gibt aber auch topologische Räume, in denen bereits allein die
- und
-Mengen die ganze Klasse der Borelmengen ausschöpfen, wie z.B. in einem T1-Raum mit abzählbar vielen Punkten. Mehr zu diesem Thema kann in Felix Hausdorff: Mengenlehre. 2., neubearbeitete Auflage. de Gruyter, Berlin u. a. 1927, nachgelesen werden.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 11.03. 2023