Morsetheorie
Die Morsetheorie aus dem Bereich der Differentialtopologie gibt einen sehr direkten Zugang zur Analyse der Topologie einer Mannigfaltigkeit über das Studium differenzierbarer Funktionen auf dieser Mannigfaltigkeit. Die wesentlichen Einsichten dazu verdankt man dem US-amerikanischen Mathematiker Marston Morse.
Die Theorie erlaubt es, CW-Strukturen (oder CW-Komplexe nach John Henry Constantine Whitehead) und Henkelzerlegungen (handle-decomposition) der Mannigfaltigkeit zu finden und so Informationen über deren Homologie zu erhalten.
Davor hatten schon im 19. Jahrhundert Arthur Cayley und James Clerk Maxwell einige dieser Konzepte aus der Betrachtung topographischer Karten gewonnen (Bergsteigerformel). Morse wandte seine Theorie ursprünglich auf geodätische Kurven an (kritische Punkte des Energiefunktionals auf Wegen). Die Techniken der Morsetheorie wurden in Raoul Botts berühmtem Beweis seines Periodizitätssatzes für die stabilen Homotopiegruppen der unitären, orthogonalen und symplektischen Gruppe benutzt.
Grundlegende Konzepte

Man betrachte für Anschauungszwecke eine bergige Landschaft M. Wenn
die Höhenfunktion (später Morsefunktion genannt) ist, die jedem Punkt seine Höhe
zuordnet, dann ist das Umkehrbild eines Punktes in
(die Niveaumenge) einfach eine Konturlinie. Jeder
zusammenhängende Teil einer Konturlinie ist entweder ein Punkt, eine einfache
geschlossene Kurve oder eine geschlossene Kurve mit Doppelpunkt (Knoten).
Konturlinien können auch Punkte höherer Ordnung (Dreifachpunkte usw.) haben,
aber diese sind instabil und können durch leichte Deformation von M
beseitigt werden. Doppelpunkte in Konturlinien kommen bei Sattelpunkten vor (oder
Pässen). Dort verlaufen die umliegenden Konturlinien einmal aufwärts und
in anderer Richtung abwärts.
Nun stelle man sich vor, die Landschaft würde mit Wasser geflutet. Erreicht
dieses eine Höhe
ist die durch das Wasser bedeckte Fläche (die Punkte mit Höhe
)
gleich
.
Wie ändert sich die Topologie der Region, wenn das Wasser steigt? Intuitiv
ändert sie sich nur, falls
die Höhe eines kritischen
Punktes passiert. Das ist ein Punkt, an dem die Ableitung (Gradient) von
f verschwindet. Mit anderen Worten, die Topologie ändert sich nur, falls
das Wasser beginnt (1) ein Becken zu füllen (Minimum), (2) einen Sattel
(Bergpass) zu überdecken, oder (3) einen Gipfel (Maximum) zu überfluten.

Jedem dieser drei Typen von kritischen Punkten – Minima, Maxima, Sattelpunkten – ordnet man eine Zahl, den Index, zu (Morseindex). Grob gesagt ist das die Zahl der unabhängigen Richtungen um den Punkt, auf denen die Funktion f abnimmt. Das ist für Minima 0, Sattelpunkte 1, Maxima 2.
sei als
definiert. Eine ähnliche Untersuchung darüber, wie sich die Topologie von
ändert, wenn
zunimmt, kann man für einen Torus
anstellen, der wie auf dem Bild angeordnet sei, wobei
die Projektion auf die vertikale Achse ist.


Hier gibt es 4 kritische Punkte
und
.
Die Punkte
und
sind der Süd- bzw. Nordpol des Torus,
und
sind Süd- bzw. Nordpol des Loches im Torus. Wenn
kleiner als Null ist, ist
leer. Nachdem
die Höhe von
(einem kritischen Punkt mit Index 0) passiert hat, mit
,
ist
eine Scheibe, die also homotopieäquivalent
zu einem Punkt ist. Dort wird eine 0-Zelle an die leere Menge „angehängt“.
Passiert
die Höhe von
(einem kritischen Punkt vom Index 1), mit
,
ist
ein Zylinder, homotopieäquivalent zu einer Scheibe mit angehängter 1-Zelle (s.
Bild links). Passiert
die Höhe von
(kritischer Punkt mit Index 1), mit
,
ist
ein Torus, dem eine Scheibe entfernt wurde, homotopieäquivalent einem Zylinder
mit angehängter 1-Zelle (Bild rechts). Passiert
schließlich die Höhe von
(ein kritischer Punkt vom Index 2), ist
ein Torus, äquivalent dem Anheften einer 2-Zelle.
Es zeichnet sich also folgende Regel ab: die Topologie von
ändert sich nur, wenn
die Höhe eines kritischen Punktes passiert. Passiert
die Höhe eines kritischen Punktes mit Index γ, wird eine γ-Zelle an
angehängt. Sind mehrere kritische Punkte auf gleicher Höhe, löst man die
Situation durch Betrachtung einer kleinen Störung von
.
So wie sie hier formuliert ist, ist die Regel allerdings falsch. Zum Beweis
sei
gleich
und
.
Dann ist 0 ein kritischer Punkt von
,
aber die Topologie von
ändert sich nicht, wenn
Null passiert. Tatsächlich ist hier der Index schlecht definiert, da auch die
zweiten Ableitungen in 0 verschwinden. Man spricht von einem ausgearteten
kritischen Punkt. Bei Rotation des Koordinatensystems ist der kritische Punkt
instabil – er verschwindet entweder oder zerfällt in zwei nichtausgeartete
kritische Punkte.
Formale Entwicklung
Für eine reellwertige
glatte Funktion
auf einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit
werden die Punkte, auf denen die Ableitung von
verschwindet, kritische Punkte von
genannt, und ihre Bilder unter
werden kritische Werte genannt. Falls bei einem kritischen Punkt
die Matrix der zweiten partiellen Ableitungen (Hessematrix) nicht singulär
ist (das heißt, sie ist invertierbar), wird
nichtausgearteter kritischer Punkt genannt (falls die Hessematrix
singulär ist analog ausgeartet)
Beispiel: Für die Funktionen
von
nach
hat
einen kritischen Punkt am Ursprung für
,
der für
nichtausgeartet ist (
ist von der Form
)
und für
ausgeartet ist (
ist von der Form
).
Ein weniger triviales Beispiel ist der Affensattel.
Der Index eines nichtausgearteten kritischen Punktes
von
ist die Dimension des größten Unterraumes des Tangentialraumes zu
bei
,
auf dem die Hessematrix negativ definit ist. Das entspricht der obigen
intuitiven Definition als Anzahl der Richtungen, auf denen
abnimmt.
Das Morselemma
Sei
ein nicht-ausgearteter kritischer Punkt von
.
Dann gibt es eine Karte
in einer Umgebung
von
,
so dass
für alle
und
in ganz .
Dabei ist α gleich dem Index von
bei
.
Als Korollar des Morselemmas folgt, dass die nichtausgearteten kritischen Punkte
isoliert sind.
Morsefunktionen
Eine glatte reellwertige Funktion auf einer Mannigfaltigkeit
ist eine Morsefunktion, falls sie keine ausgearteten kritischen Punkte
hat. Ein grundlegendes Resultat der Morsetheorie besagt, dass fast alle
Funktionen Morsefunktionen sind. Präzise ausgedrückt bilden sie eine dichte
offene Teilmenge im Raum aller glatten Funktionen
in der
-Topologie.
Man beschreibt diesen Sachverhalt auch mit Eine typische Funktion ist eine
Morsefunktion oder Eine generische Funktion ist Morsefunktion.
Subniveaumengen
Wie gesagt ist man an der Frage interessiert, wie sich die Topologie von
ändert, wenn
variiert. Dies wird teilweise durch folgenden Satz beantwortet:
- Satz
- Es sei
sei eine glatte reellwertige Funktion auf
, es sei
und
sei kompakt. Wenn es zwischen
und
keine kritischen Werte gibt, dann ist
diffeomorph zu
, und
ist ein Deformationsretrakt auf
.
Weiter interessiert, wie sich die Topologie von
ändert, wenn
einen kritischen Wert passiert. Dazu gilt folgender Satz:
- Satz
- Es sei
sei eine glatte reellwertige Funktion auf
und
sei ein nichtausgearteter kritischer Punkt von
mit Index
. Weiter sei
und
sei kompakt und enthalte keine kritischen Punkte außer
. Dann ist für genügend kleine
die Menge
homotopieäquivalent zu
mit einer angehängten
-Zelle.
Diese Resultate verallgemeinern und präzisieren die (in der dortigen Form inkorrekte) Regel aus dem vorherigen Abschnitt.
Mit den zwei vorherigen Resultaten und der Tatsache, dass auf jeder
differenzierbaren Mannigfaltigkeit eine Morsefunktion existiert, kann man
zeigen, dass jede differenzierbare Mannigfaltigkeit ein CW-Komplex ist, mit einer
-Zelle
für jeden kritischen Punkt mit Index
.
Dazu muss man zeigen, dass man die kritischen Punkte so anordnen kann, dass auf
jeder kritischen Höhe nur ein kritischer Punkt ist.
Die Morseungleichungen
Die Morsetheorie kann dazu benutzt werden, die Homologie einer
Mannigfaltigkeit stark einschränkende Sätze zu beweisen. Die Zahl der kritischen
Punkte mit Index
von
ist gleich der Zahl der
-Zellen
in der CW Struktur von
,
die man durch „Erklettern“ von
erhält. Da die alternierende Summe der Ränge der Homologiegruppen eines
topologischen Raumes gleich der alternierenden Summe des Ranges der Kettenkomplexgruppen ist,
mit denen die Homologie berechnet wird, sieht man, dass die Euler-Charakteristik
gleich der Summe
ist, wobei
die Zahl der kritischen Punkte mit Index
ist. Aus der Homologietheorie ist weiter bekannt, dass der Rang der
-ten
Homologiegruppe eines CW-Komplexes
kleiner oder gleich der Anzahl der
-Zellen
in
ist. Der Rang der
ten
Homologiegruppe ist also kleiner oder gleich der Anzahl der kritischen Punkte
vom Index
einer Morsefunktion auf
.
Das lässt sich in den Morseungleichungen präzisieren:
Morsehomologie
Morsehomologie ist durch eine generische Wahl der Morsefunktion und der riemannschen Metrik definiert. Das grundlegende Resultat ist, dass diese Homologie unabhängig von dieser Wahl ist, also eine Invariante der Mannigfaltigkeit, und isomorph zur singulären Homologie ist. Daraus folgt, dass die Morsezahlen und (singulären) Bettizahlen übereinstimmen, was einen unmittelbaren Beweis der Morseungleichungen ergibt. Eine unendlich-dimensionale Variante der Morsehomologie ist als Floerhomologie bekannt.
Edward Witten entwickelte 1982 einen weiteren Zugang zur Morsetheorie mit harmonischen Funktionen und Supersymmetrie.
Morse-Bott-Theorie
Der Begriff der Morsefunktion kann auf Funktionen mit nicht-ausgearteten kritischen Mannigfaltigkeiten erweitert werden, das heißt, der Kern der Hessematrix am kritischen Punkt ist gleich dem Tangentialraum der kritischen Untermannigfaltigkeit. Falls diese Punkte sind, ergibt sich wieder der klassische Fall der Morsefunktion. Der Index wird am natürlichsten als Paar
definiert, wobei
die Dimension der instabilen Mannigfaltigkeit an einem gegebenen Punkt der
kritischen Mannigfaltigkeit ist, und
gleich
plus der Dimension der kritischen Mannigfaltigkeit ist. Bei kleiner Störung der
Morse-Bott-Funktion liegen die Indices der neuen Funktion zwischen
und
auf der ungestörten kritischen Mannigfaltigkeit.
Morse-Bott-Funktionen sind nützlich, da man mit typischen (generischen) Morsefunktionen schwer arbeiten kann. Die visualisierbaren und gut berechenbaren Funktionen haben typischerweise Symmetrien und führen oft zu kritischen Mannigfaltigkeiten positiver Dimension. Raoul Bott benutzte die Morsetheorie in dem ursprünglichen Beweis seines Periodizitätssatzes.
Auch die Morsehomologie kann für Morse-Bott-Funktionen definiert werden. Das Differential in dieser Homologie wird durch eine Spektralsequenz berechnet. Frederic Bourgeois entwickelte einen solchen Zugang im Rahmen seiner Morse-Bott-Version der symplektischen Feldtheorie, der jedoch aufgrund analytischer Probleme nicht publiziert wurde.
Literatur
- H. Seifert, W. Threlfall: Variationsrechnung im Grossen. (Theorie von Marston Morse). = Morsesche Theorie. Teubner, Leipzig u. a. 1938 (Hamburger mathematische Einzelschriften 24, ZDB-ID 503145-x).



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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 21.09. 2024