Kumulante
Kumulanten sind in der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik Kenngrößen der Verteilung einer Zufallsvariablen, die in Bezug auf die Summenbildung von stochastisch unabhängigen Zufallsvariablen einfachen Rechengesetzen genügen. Die Folge der Kumulanten beginnt mit dem Erwartungswert und der Varianz.
Definition
Ist
die momenterzeugende
Funktion der Zufallsvariablen
,
d.h., es ist
,
so heißt die Funktion
kumulantenerzeugende Funktion. Die -te
Kumulante
der Verteilung von
ist dann definiert durch
.
Alternativ lassen sich Kumulanten auch durch die charakteristische
Funktion
einer Zufallsvariablen
definieren.
Die -te
Kumulante
ist dann definiert durch
Eigenschaften
Verschiebungs-Invarianz
Die Kumulanten werden auch als Semiinvarianten der Dichtefunktion
bezeichnet, da sie sich, mit Ausnahme von
,
bei einer Verschiebung des Erwartungswertes
nicht ändern. Sei
eine Zufallsvariable, dann gilt für eine beliebige Konstante
:
Homogenität
Die -te
Kumulante ist homogen
vom Grad
,
sei
eine beliebige Konstante, dann gilt:
Additivität
Seien
und
stochastisch
unabhängige Zufallsvariablen, dann gilt für
Für unabhängige Zufallsvariablen ist die charakteristische Funktion ein
Produkt
und somit der Logarithmus eine Summe:
Für die Summe
aus
stochastisch unabhängigen Zufallsvariablen
gilt:
Besonderheit der Normalverteilung
Für eine Normalverteilung
mit Erwartungswert
und Varianz
ist die charakteristische Funktion gleich
und somit die Kumulanten:
für
.
Alle Kumulanten größer als 2. Ordnung verschwinden. Diese Eigenschaft charakterisiert die Normalverteilung.
Man kann zeigen, dass
- entweder alle Kumulanten außer den ersten beiden verschwinden
- oder unendlich viele nichtverschwindende Kumulanten existieren.
Anders ausgedrückt: Die Kumulanten generierende Funktion
kann kein endliches Polynom von Grad größer 2 sein.
Kumulanten und Momente
Kumulanten als Funktion der Momente
Bezeichne
das n-te Moment
einer Zufallsvariablen
.
Durch
lässt sich
darstellen als
Folglich lassen sich die Kumulanten durch die Momente
bzw. folgendermaßen ausdrücken:
Im Allgemeinen lässt sich die Abhängigkeit der Kumulanten von den Momenten durch folgende Rekursionsformel beschreiben:
Alternativ lässt sich aus der Formel
von Faà di Bruno die k-te Kumulante mittels der Bell-Polynome
und der Momente
darstellen als
.
Mit den zentralen Momenten
sind die Formeln meist kürzer:
Von besonderer Bedeutung sind die ersten beiden Kumulanten:
ist der Erwartungswert
und
ist die Varianz
.
Ab der vierten Ordnung stimmen Kumulante und zentrales Moment nicht mehr
überein.
Herleitung der ersten Kumulanten
Man entwickelt
um
und setzt die Reihendarstellung von
in obige Entwicklung ein
Sortiert man noch nach Potenzen von ,
so erhält man die Kumulanten:
Momente als Funktion der Kumulanten
Das -te
Moment ist ein Polynom
-ten
Grades der ersten
Kumulanten. Hier die ersten sechs Momente:
Die Koeffizienten entsprechen genau denjenigen in der Formel von Faà
di Bruno. Allgemeiner, ist das n-te Moment genau das nte vollständige Bell-Polynom
,
ausgewertet an den Stellen
:
.
Um die zentralen Momente als Funktion der Kumulanten auszudrücken,
vernachlässige in obigen Polynomen für die Momente alle Terme, bei denen
als Faktor auftaucht.
Kumulanten und Mengenpartitionen
Oben haben wir die Momente als Polynome in den Kumulanten ausgedrückt. Diese Polynome haben eine interessante kombinatorische Interpretation: ihre Koeffizienten zählen Mengenpartitionen. Die allgemeine Form dieser Polynome kann folgendermaßen geschrieben werden
wobei
die Menge aller Partitionen einer n-elementigen Menge durchläuft;
- "
" bedeutet dass
einer der Blöcke ist, in welche die Menge zerlegt wurde; und
ist die Größe des Blocks
.
Multivariate Kumulanten
Die multivariaten (oder gemeinsamen) Kumulanten von mehreren Zufallsvariablen X1, ..., Xn kann auch durch eine Kumulanten-erzeugende Funktion definiert werden:
Diese Formel kann wieder in kombinatorischer Form interpretiert werden gemäß
wobei
alle Partitionen von { 1, ..., n } durchläuft,
läuft durch die Menge aller Blöcke der Partition
,
und
ist die Anzahl der Blöcke in
.
Zum Beispiel haben wir
Dieser kombinatorische Zusammenhang zwischen Kumulanten und Momenten erhält eine einfachere Form, wenn man Momente durch Kumulanten ausdrückt:
Zum Beispiel haben wir dann:
Die erste Kumulante einer Zufallsvariable ist ihr Erwartungswert, die
gemeinsame zweite Kumulante von zwei Zufallsvariablen ist ihre Kovarianz. Sind
einige der Zufallsvariablen unabhängig voneinander, so verschwindet jede
gemischte Kumulante welche mindestens zwei der unabhängigen Variablen enthält.
Sind alle Zufallsvariablen gleicht, so reduziert sich die gemeinsame Kumulante
auf die gewöhnliche n-te Kumulante
von
.
Eine weitere wichtige Eigenschaft der multivariaten Kumulanten ist Multilinearität in den Variablen:
Folgerungen
Gegeben seien die identisch verteilten und stochastisch unabhängigen
Zufallsvariablen .
Zentraler Grenzwertsatz
Für die Zufallsvariable
ergeben sich unter Ausnutzung der Eigenschaften Homogenität und Additivität folgende Kumulanten:
Die Ordnung ergibt sich, da die Summe über die Einzelkumulanten
von der Ordnung
ist. Hier die Ordnungen der ersten Kumulanten:
Für
ist die Ordnung
hoch einem negativen Exponenten und somit gilt im Grenzwert unendlich vieler
Zufallsvariablen:
D. h. es bleiben nur die beiden ersten Kumulanten übrig. Die einzige Verteilung, die nur die erste und zweite Kumulante besitzt, ist die Gauß-Verteilung. Damit wird plausibel, dass die Summe beliebiger Zufallsvariablen geteilt durch die Wurzel der Anzahl gegen die Gauß-Verteilung konvergiert; dies ist der Zentrale Grenzwertsatz. Um diese Plausibilitätsbetrachtung zu einem Beweis zu vervollständigen, bedarf es der Verwendung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten von charakteristischen Funktionen. Die Gauß-Verteilung nimmt also eine besondere Stellung unter allen Verteilungen ein. Wirken bei einem Experiment viele stochastisch unabhängige Einflüsse, so kann man die Gesamtheit der Einflüsse durch eine Gaußsche Zufallsvariable darstellen.
Als einfachen Spezialfall betrachte alle Zufallsvariablen als identisch
mit Mittelwert 0, Varianz
und beliebigen höheren Momenten.
Für die Zufallsvariable
kann man gegenüber
die Verschiebungsinvarianz der Kumulanten der Ordnung größer gleich 2 ausnutzen.
Der einzige Unterschied zur Zufallsvariablen
ist, dass Erwartungswert von
Null ist, auch dann wenn die Erwartungswerte der
nicht verschwinden.
Gesetz der großen Zahlen
Für die Zufallsvariable
ergeben sich unter Ausnutzung der Eigenschaften Homogenität und Additivität folgende Kumulanten:
Die Ordnung ergibt sich, da die Summe über die Einzelkumulanten
von der Ordnung
ist. Hier die Ordnungen der ersten Kumulanten:
Für
ist die Ordnung
hoch einem negativen Exponenten und somit gilt im Grenzwert unendlich vieler
Zufallsvariablen:
D. h. es bleibt nur die erste Kumulante bzw. das erste Moment übrig. Mit
wachsendem
erhält man eine Gauß-Verteilung um den Mittelwert
,
wobei die Breite von der Ordnung
ist, und im Grenzfall
einen scharfen (Delta-förmigen)
Peak bei
.
Als einfachen Spezialfall betrachte alle Zufallsvariablen als identisch
mit Mittelwert
,
Varianz
und beliebigen höheren Momenten.
Somit ist
eine Zufallsvariable mit demselben Mittelwert wie
(man nennt
erwartungstreuer Schätzer für den Mittelwert von
).
Die für wachsende
immer schmaler werdende Breite der Gauß-Verteilung (Standardabweichung um
Mittelwert) beträgt
.
Geschichte
Kumulanten und ihre Eigenschaften wurden erstmals 1889 von dem dänischen Mathematiker Thorvald Nicolai Thiele in einem in dänischer Sprache erschienenen Buch beschrieben. Obwohl dieses Buch im gleichen Jahr im Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik ausführlich referiert wurde, blieben die Ergebnisse zunächst weitgehend unbeachtet, so dass Felix Hausdorff noch 1901 diese Kenngrößen in einer Arbeit als (von ihm) „neueingeführt“ bezeichnete.
Freie Kumulanten
In obiger kombinatorischer Momenten-Kumulanten-Formel
summiert man über alle Partitionen der Menge .
Wenn man stattdessen nur über nicht-kreuzende
Partitionen summiert, so erhält man die freien Kumulanten. Diese
wurden von Roland Speicher
eingeführt und spielen in der freien
Wahrscheinlichkeitstheorie eine analoge Rolle wie die üblichen Kumulanten in
der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie.
Insbesondere sind die freien Kumulanten additiv für freie Zufallsvariable. Die
Wignersche
Halbkreisverteilung, welche das freie Gegenstück zur Normalverteilung ist,
ist dadurch charakterisiert, dass nur die freie Kumulante zweiter Ordnung nicht
verschwindet.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 10.06. 2021