Greensche Funktion
Greensche Funktionen sind ein wichtiges Hilfsmittel zum Lösen inhomogener linearer partieller Differentialgleichungen. Benannt sind sie nach dem Physiker und Mathematiker George Green. Mittels der Greenschen Formeln löste dieser ein spezielles Dirichlet-Problem. Eine besondere Lösung dieses partiellen Randwertproblems, die in diesem Verfahren auftritt und mit deren Hilfe man durch das Superpositionsprinzip weitere Lösungen bestimmen kann, trägt heute den Namen Greensche Funktion. Bis heute wurde diese von Green beschriebene Lösungsmethode auf eine größere Klasse von Differentialgleichungen beziehungsweise von Randwertproblemen ausgeweitet. Daher wurde auch der Begriff der Greenschen Funktion auch in einen deutlich allgemeineren Kontext gestellt. Laurent Schwartz übertrug die Greensche Funktion in den Kontext der von ihm entwickelten Distributiontheorie. Dort wird sie selbst als Distribution verstanden und wird oftmals als Fundamentallösung bezeichnet. Andere Autoren bezeichnen sie aber auch im Kontext der Distributionen als Greensche Funktion.
In der Potentialtheorie und Schweremessung wird sie u.a. zur Lösung des Ersten Randwertproblems eingesetzt. In der Theoretischen Physik, besonders in der Hochenergie- und Vielteilchenphysik, wird ferner eine Fülle verschiedener Funktionen definiert, die allesamt als „Greensche Funktionen“ bezeichnet werden und mit den hier angegebenen Funktionen in der einen oder anderen Form verwandt sind, ohne dass dies auf den ersten Blick erkennbar wäre. Diese Funktionen, speziell die Propagatoren der relativistischen Quantentheorien, sind im Folgenden nicht gemeint.
Motivation
Eine inhomogene lineare Differentialgleichung mit konstanten komplexen Koeffizienten hat die Form
,
wobei
ein linearer Differentialoperator
ist. Ziel ist, eine partikuläre Lösung
zur Inhomogenität
zu finden. Man würde jetzt gerne so etwas wie einen „Umkehroperator“
finden, denn dann könnte man die Lösung der obigen Gleichung als
schreiben. Wenn
aber nicht-triviale Lösungen hat, ist
nicht injektiv,
es kann also kein Linksinverses geben. Wohl aber ist
surjektiv,
wenn die Gleichung für jedes
eines geeigneten Funktionenraums
Lösungen hat. Daher kann man einen rechtsinversen Operator
suchen, für den
gilt. Mit
hat man dann eine partikuläre Lösung der Ausgangsgleichung gefunden, denn es
gilt
.
Die allgemeine Lösung ergibt sich durch Addition der allgemeinen Lösung des
homogenen Problems zur partikulären Lösung. Wählt man als Inhomogenität die Delta-Distribution
,
dann nennt man
die Fundamentallösung
von
.
Abhängig von Autor und Themenschwerpunkt wird
auch schon als Greensche Funktion bezeichnet.
Für eine beliebige Inhomogenität
stellt sich nun die Frage, wie
aus der Fundamentallösung
gewonnen werden kann. Mittels der Faltung
gilt dann
.
Physikalisch beschreibt dies das Superpositionsprinzip,
mathematisch spricht man von der Linearität
von .
Erklärung der einzelnen Schritte:
Das erste Gleichheitszeichen ist die Ausgangsgleichung .
Für jede Funktion
ist die Faltung
mit der Delta-Distribution
möglich und liefert wieder die Ausgangsfunktion:
.
Verwende
,
also dass
die Differentialgleichung mit
-Inhomogenität
löst. Bildet man die Ableitung einer Faltung, so wird die Ableitung einfach
hineingezogen, das heißt
.
Schließlich kann aus
,
die partikuläre Lösung identifiziert werden, nämlich als Faltung der
Fundamentallösung mit der Inhomogenität
.
Betrachtet man nun anstatt einer linearen Differentialgleichung eine lineare
Differentialgleichung mit Zusatzbedingungen wie Randwerten
oder Anfangswerten
so wird die zuvor untersuchte Funktion
als Greensche Funktion bezeichnet.
Definition
Gewöhnliche Differentialgleichungen
Sei
ein Differentialoperator mit .
Dann erfüllt eine Greensche Funktion
zu diesem Operator die fundamentale Gleichung:
,
wobei
die Delta-Distribution
ist. Unter Umständen fügt man später noch Zusatzbedingungen hinzu, z. B.
Retardierungsbedingungen (s.u.) oder die dazu äquivalente „Sommerfeldsche
Ausstrahlungsbedingung“ oder eine Anfangs- bzw. Randbedingung, durch die
eindeutig wird. Eine spezielle Lösung ergibt sich durch Faltung:
,
wie man wie folgt einsieht:
Für
entspricht das der stationären („eingeschwungenen“) Antwort des Systems, eines
gedämpften harmonischen Oszillators, auf einen ballistischen
Einheitsstoß, d.h. auf die spezielle reduzierte Antriebskraft
.
Partielle Differentialgleichungen
Für partielle Differentialgleichungen gilt ebenso die definierende Gleichung
und eine spezielle Lösung ergibt sich wiederum durch Faltung:
.
Problematischer sind in dem Fall jedoch das Auffinden einer Greenschen Funktion und die Berechnung der mehrdimensionalen Integrale.
Greensche Funktion mit Randbedingungen
Kennt man eine Greensche Funktion zu einem Operator ,
so kann man den inhomogenen Teil der Differentialgleichung ohne Probleme lösen.
Für die allgemeine Lösung hat man aber im Allgemeinen noch Randbedingungen zu
erfüllen. Dies kann auf vielfache Art geschehen, ein elegantes Verfahren ist
aber die Addition einer Lösung des homogenen Problems
,
sodass die Randbedingungen erfüllt sind. Anschaulich entspricht dies beim Lösen
der Poisson-Gleichung
dem Hinzufügen von Bildladungen
und Entfernen der Ränder, so dass da, wo der Rand war, die vorher vorgegebenen
Werte angenommen werden. Man denke sich als einfaches Beispiel ein geladenes
Teilchen vor einer geerdeten Ebene. Bringt man auf der anderen Seite der Ebene
eine entgegengesetzt geladene Ladung an und entfernt gedanklich die Ebene, so
ist dort, wo die Ebene war, das Potential Null, was die geforderte Randbedingung
erfüllt.
Häufig verwendet man dieses Verfahren zum Lösen der Poisson-Gleichung
(Gaußsche Einheiten). Mithilfe des Gaußschen
Integralsatzes findet man (
):
Je nachdem, ob man nun das Potential oder dessen Ableitung auf dem Rand
vorgegeben hat, wählt man nun die Funktion
die zu
hinzuaddiert werden soll so, dass im ersten Fall
gilt und nennt G′ üblicherweise Dirichletsche Greensche Funktion
.
Im zweiten Fall wählt man
nicht – wie nahe liegen würde – so, dass
verschwindet, da dies den Gaußschen Satz verletzen würde. Stattdessen wählt man
so, dass
gilt (was in obigem Integral nur den Mittelwert des Potentials über die
Oberfläche produziert, eine Konstante um die die Lösung sowieso unbestimmt ist)
und nennt
üblicherweise Neumannsche Greensche Funktion
.
Die zu bestimmenden Greenschen Funktionen findet man bei symmetrischen Problemen
oft aus geometrischen Überlegungen. Alternativ kann man
nach einem Orthonormalsystem des Operators entwickeln. Hat man eine Lösung
gefunden, so ist diese eindeutig bestimmt, wie unmittelbar aus
dem Maximumprinzip
für elliptische Differentialgleichungen folgt.
Beispiele
Poisson-Problem
Oftmals versteht man unter der Greenschen Funktion
den Integralkern
des Laplace-Operators
unter Berücksichtigung gewisser Randwerte, das heißt für
gilt
.
George Green nutzte diese Funktion mit den Randwertproblemen, die aus der Potentialtheorie folgen, um die Greenschen Formeln zu bestimmen. Jedoch wurde man sich der Wichtigkeit dieses Resultats erst nach seinem Tod bewusst.
In diesem Abschnitt wird die Greensche Funktion des Dirichlet-Problems der Poisson-Gleichung
bestimmt, wobei
der Laplace-Operator
und
ein offenes beschränktes Gebiet mit glattem Rand
ist. Die Fundamentallösung des Laplace-Operators lautet
wobei
das Volumen des Einheitsballs in
ist. Fixiere nun
und wähle eine Kugel
um
mit Radius
,
so dass
ganz in
liegt. Definiere
.
Auf dieser Menge ist die Fundamentallösung
glatt. Aus der Greenschen
Formel folgt dann
,
wobei
die partielle Ableitung nach dem äußeren Einheitsnormalenvektor
ist. Da
und
ist, ergibt sich
.
Für
gilt
und
,
woraus
folgt. Dies ist eine Möglichkeit die Lösung des Poisson-Problems
darzustellen. Jedoch ist in diesem Kontext die Normalenableitung
von
unbekannt. Aus diesem Grund wird eine Korrekturfunktion
eingeführt, die das Randwertproblem
löst. Mittels der gleichen Argumentation wie zuvor folgt aus der Greenschen Formel
.
Addiert man diese Gleichung mit der oben gefundenen Darstellung von
so erhält man die Darstellung
ohne den Term .
Die Funktion
heißt Greensche Funktion des Laplace-Operators zum Gebiet
.
Weiter kann noch gezeigt werden, dass die Funktion symmetrisch von
ihren Argumenten abhängt, das heißt es gilt
.
Bestimmung des statischen elektrischen Feldes
Nach den Maxwell-Gleichungen gilt für die Quellstärke des zeitlich unveränderlichen elektrischen Feldes
,
wobei
die elektrische Feldstärke und
die elektrische Ladungsdichte ist. Da es sich im elektrostatischen Fall um ein
konservatives
System handelt, gilt
,
wobei
das elektrische Potential ist. Einsetzen liefert die Poisson-Gleichung
,
also eine inhomogene lineare partielle Differentialgleichung 2. Ordnung.
Kennt man eine Greensche Funktion
des Laplace-Operators
,
so lautet eine partikuläre Lösung
Eine (nicht eindeutig bestimmte) Greensche Funktion des Laplace-Operators in 3 Dimensionen ist
,
womit sich nach Einsetzen
ergibt. Letzte Gleichung soll die physikalische Interpretation der Greenschen Funktion verdeutlichen. Die Greensche Funktion zusammen mit dem Differential stellen einen „Potentialstoß“ dar, das Gesamtpotential ergibt sich dann durch Superposition aller „Potentialstöße“, also durch Ausführen des Integrals.
Inhomogene Wellengleichung
Dieser Fall ist etwas schwieriger und anders geartet, weil man es nicht mit einer elliptischen, sondern mit einer hyperbolischen Differentialgleichung zu tun hat. Hier treten die oben angedeuteten Komplikationen auf.
Greensche Funktion per Fourieranalyse
Die inhomogene Wellengleichung hat die Form
Durch Fourier-Zerlegung findet man nach Ausführen des Operators für die Fourier-Transformierten
Nach dem Faltungstheorem gilt also:
Die Rücktransformation kann man mit Hilfe des Residuenkalküls ausrechnen und findet
was in natürlicher Weise zu zwei Anteilen („retardierter“ bzw. „avancierter“
Anteil) der Greenschen Funktion Anlass gibt. Das Argument in der ersten
Deltafunktion, ,
bedeutet nämlich, dass eine zum Zeitpunkt
bei
erzeugte „Ursache“ durch die endliche Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle erst
zum Zeitpunkt
ihre „Wirkung“ am Ort
hervorruft. Für die zweite Deltafunktion ergibt sich, dass das Feld gegenüber
der Inhomogenität um das entsprechende Zeitintervall vorauseilt. Das wäre aus
Kausalitätsgründen unphysikalisch, wenn man die Inhomogenität als Ursache und
das Feld als Wirkung ansehen würde; es ist aber durchaus physikalisch, wenn die
Inhomogenität als Absorber (Empfänger) der Welle fungiert.
Die retardierte Greensche Funktion, bei der die Inhomogenität kausal einem „Sendeprozess“ auslaufender Kugelwellen entspricht, lautet somit
Die retardierte Lösung der Wellengleichung ergibt sich dann durch Faltung:
Es gilt also ein Superpositionsprinzip mit Retardierung: Die Lösung ist eine Überlagerung von auslaufenden Kugelwellen (huygenssches Prinzip, sommerfeldsche Ausstrahlungsbedingung), deren Bildung ähnlich wie in der Elektrostatik erfolgt.
Die avancierte Greensche Funktion, bei der die Inhomogenität kausal einem „Empfangsprozess“ einlaufender Kugelwellen entspricht, lautet
Alternative Herleitung
Wenn man die Greensche Funktion des Laplace-Operators als bekannt voraussetzt
(siehe Hauptartikel Laplace-Operator
und Poisson-Gleichung),
kann die retardierte Greensche Funktion der Wellengleichung ohne
Fouriertransformation gewonnen werden .
Zunächst gilt für eine beliebige „glatte“ Funktion
wobei
die dreidimensionale Delta-Funktion ist. Um zu sehen, dass die linke Seite im
Bereich
stets null ist, schreibt man den Laplace-Operator in Kugelkoordinaten mit dem
radialen Teil in der Form
.
In unmittelbarer Umgebung von
kann die glatte Funktion als räumlich konstant gleich
angesehen werden. Anwendung des Laplace-Operators auf den Faktor
erzeugt dann die dreidimensionale Delta-Funktion.
Das Argument lässt sich durch Entwickeln von
nach Potenzen von
präzisieren, wobei die führende Potenz bei Anwendung des Laplace-Operators
gesondert behandelt werden muss.
Für
kann insbesondere eine Gaußfunktion
gewählt werden. Da die Delta-Distribution
als Limes von Gaußfunktionen dargestellt werden kann, erhält man im Limes
die definierende Gleichung für die Greensche Funktion der Wellengleichung.
Weitere Beispiele
In der folgenden Tabelle sind für einige Operatoren die Greenschen Funktionen gegeben.
Bemerkung | Differentialoperator |
Greensche Funktion |
---|---|---|
eindimensionaler harmonischer Oszillator | ||
zweidimensionaler Laplace-Operator | ||
dreidimensionaler Laplace-Operator | ||
Helmholtz-Gleichung | ||
Diffusionsgleichung | ||
Box-Operator |
Siehe auch
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 31.07. 2021