Elektronenspin
Elektronenspin ist die quantenmechanische Eigenschaft Spin von Elektronen. Diese Eigenschaft wurde 1925 erstmals an Elektronen entdeckt, danach auch an allen anderen Teilchenarten. Der Spin (von spin ‚Drehung‘, ‚Drall‘) hat alle Eigenschaften eines klassischen mechanischen Drehimpulses, ausgenommen die, dass er durch die Drehbewegung einer Masse hervorgerufen wird.
Für jedes Elektron hat der Spin einen unveränderlichen Betrag, der durch die Spin-Quantenzahl s = 1/2 angegeben wird. Selbst wenn das Elektron mit kinetischer Energie Null ruht, hat es seinen Spin, der deshalb auch als Eigendrehimpuls bezeichnet wird. Wie oder wodurch der Spin zustande kommt, bleibt in der klassischen Physik unerklärbar. Anschauliche oder semi-klassische Beschreibungen sind daher unvollständig. Eine Erklärung für den Spin wurde 1928 in der Dirac-Gleichung gegeben. Dies führte zur Entwicklung der relativistischen Quantenmechanik.
Der Spin des Elektrons ist von fundamentaler Bedeutung für das physikalische Weltbild. Er spielt beim Aufbau der Atomhülle und damit für die Materie bis hin zur Festlegung ihrer makroskopischen Eigenschaften eine bestimmende Rolle.
Zu weiteren grundlegenden Eigenschaften des Spins siehe Hauptartikel: Spin.
Entdeckung und Verständnis des Spins
Ungelöste Probleme der Atomphysik im frühen 20. Jahrhundert
Nachdem die Bewegung der Elektronen im Atom als maßgeblich für die Emission von Lichtwellen mit wohlbestimmten Frequenzen (Spektrallinien) erkannt worden war (überzeugend z.B. im bohrschen Atommodell 1913), stellte die schon lange beobachtete feine Aufspaltung vieler Linien ein weiterhin ungelöstes Problem dar. Zwar konnte eine zusätzliche Aufspaltung durch Anlegen eines starken Magnetfelds (Zeeman-Effekt, schon 1897 gefunden) im Prinzip durch eine magnetische Beeinflussung der Elektronenbewegung auf ihren stabilen Bahnen erklärt werden.
- Grundlage der Erklärung ist das Larmor-Theorem: Es sagt Präzession
der ganzen Bahnkurve um die Magnetfeldachse voraus, Kreisfrequenz
; darin e und m Ladung und Masse des Elektrons, c Lichtgeschwindigkeit, B Magnetfeld.
Diese Erklärung passte aber nur zu den Fällen, wo die Aufspaltung dreifach war (daher „normaler Zeeman-Effekt“ genannt). Im bohr-sommerfeldschen Atommodell von 1916 konnten höhere magnetische Aufspaltungen, wenn sie ungeradzahlig waren, durch die Richtungsquantelung des Bahndrehimpulses der Elektronenniveaus erklärt werden:
- Für eine Bahndrehimpuls-Quantenzahl
stehen genau
verschiedene Neigungswinkel des Drehimpulses zur Richtung des Magnetfelds zur Verfügung, jede mit einer um
verschobenen Energie (darin
das durch 2π dividierte plancksche Wirkungsquantum,
die magnetische Quantenzahl mit ihren
verschiedenen möglichen Werten von
bis
). Da
nur ganzzahlig sein kann, ergibt sich eine stets ungerade Zahl aufgespaltener Niveaus.
Das bohr-sommerfeldsche Modell konnte auch feine Aufspaltungen erklären, die
nicht von einem Magnetfeld verursacht waren, denn es macht die Elektronenenergie
bei gleicher Hauptquantenzahl aufgrund relativistischer Effekte auch etwas von
abhängig. Unerklärt blieben aber die häufig beobachteten geradzahligen
magnetischen Aufspaltungen in zwei oder mehr Niveaus, sowie die zweifache
Aufspaltung eines Niveaus schon ganz ohne Magnetfeld (z.B. bei der
intensiven gelben Spektrallinie von Natrium, an der auch Zeeman erstmals den
magnetischen Effekt hatte nachweisen können).
Einführung des Elektronenspins
Zur Lösung dieses Rätsels schlugen Samuel
Goudsmit und George
Uhlenbeck 1925 vor,
dem Elektron einen zusätzlichen Eigendrehimpuls Spin zuzuschreiben. Er
musste eine halbzahlige Drehimpulsquantenzahl
haben, damit die magnetische Spinquantenzahl auf zwei mögliche Werte
beschränkt blieb und sich somit eine zweifache oder, zusammen mit einem
Bahndrehimpuls
,
eine höhere geradzahlige Aufspaltung ergab.
Zur Rezeption dieser gewagten Idee ist anzumerken, dass ihre beiden Urheber sogleich wieder zurückschraken und die schon vorbereitete Veröffentlichung noch einmal zu verhindern versuchten. Ihr Institutschef Paul Ehrenfest untersagte es ihnen aber mit der Begründung: „Sie sind beide jung genug, um sich eine Dummheit leisten zu können.“ Physikalisch gewichtige Gegenargumente waren damals:
- Damit das Elektron diesen Eigendrehimpuls durch eine schnelle Rotation um seinen Mittelpunkt entstehen lassen könnte, müsste es entweder einen unmöglich großen Radius haben oder sich am „Äquator“ mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit bewegen.
- Der Einfluss der magnetischen Spinquantenzahl
auf die Niveauaufspaltung muss genau doppelt so groß angesetzt werden wie der Einfluss der magnetischen Bahndrehimpulsquantenzahl
, unvereinbar mit dem gut fundierten Larmor-Theorem.
Deshalb widersprach zunächst auch Wolfgang
Pauli der Idee des Eigendrehimpulses mit halbzahligem Wert, obwohl gerade er
schon im Jahr zuvor dem Elektron zusätzlich zu den drei räumlichen Quantenzahlen
eine innere zweiwertige Quantenzahl zugeschrieben hatte, um die Systematik der
Spektren und den Schalenaufbau der Atomhülle zu erklären und sein paulisches
Ausschließungsprinzip formulieren zu können. Diese Quantenzahl wurde nun als
identifiziert. Doch 1927 begründete Pauli selbst in Gestalt der paulischen Spinmatrizen
den heute noch gültigen Umgang mit dem halbzahligen Elektronenspin in der
(nichtrelativistischen) Quantenmechanik.
Anomales magnetisches Moment des Elektrons
Anomaler Spin-g-Faktor des Elektrons
Alle Teilchen, die elektrische Ladung und einen Drehimpuls besitzen, haben
ein magnetisches
Dipolmoment, oft veranschaulicht als ein kleiner Stabmagnet parallel zur
Rotationsachse. Deswegen werden die Energieniveaus durch ein Magnetfeld
beeinflusst (Zeeman-Effekt).
Die klassische Physik macht zum Verhältnis zwischen der Größe des Drehimpulses
und des magnetischen Moments eine eindeutige Aussage, die auch für den
Bahndrehimpuls der Elektronen in der Atomhülle richtig ist (Larmor-Theorem
s.o.). Zum Elektronenspin gehört aber ein (fast, s.u.) genau doppelt
großes magnetisches Moment. Diese Korrektur wird mittels einer g-Faktor
genannten Zahl berücksichtigt. Für Bahndrehimpuls gilt der klassische Wert ,
für den Spin des Elektrons
.
Entdeckt wurde dieser anomale
g-Faktor des Spins mittels der Analyse des Zeeman-Effekts. Die Dirac-Theorie
liefert eine theoretische Erklärung. Nach der Entdeckung einer Abweichung vom
Dirac-Wert
um 1,1‰ wird zunehmend nur noch diese Abweichung als Anomalie des g-Faktors
bezeichnet. Sie wird durch Effekte der Quantenelektrodynamik
erklärt, die auf sonst unbeobachtbaren Prozessen wie Vakuumpolarisation
und Selbstenergie beruhen.
Wegen der Möglichkeit, diese g-Faktor-Anomalie mit extremer Genauigkeit zu
bestimmen, sind Experimente und theoretische Berechnungen im Lauf der letzten 50
Jahre bis zur 12. Dezimalstelle nach dem Komma vorangetrieben worden, ohne dass
sich eine signifikante Differenz ergeben hätte.
Elektronenspin und magnetische Materialien
Die mit dem Elektronenspin verbundenen magnetischen Dipole machen sich
makroskopisch direkt bemerkbar in Gestalt des permanenten
Magnetismus aller magnetischen
Werkstoffe. Diese Werkstoffe enthalten Atome der Elemente um Eisen oder der
seltenen
Erden mit etwa halb gefüllten inneren Schalen (3d- bzw. 4f-Schale). Die
energetisch bevorzugte Konfiguration der Elektronen darin zeigt Parallelstellung
aller Spins, während alle weiteren Drehimpulse sich zu Null addieren.
Makroskopisch bemerkbarer (permanenter) Magnetismus tritt bei den Materialien
ein, bei denen zusätzlich gilt, dass auch benachbarte Atome die parallele
Ausrichtung ihrer magnetischen Momente energetisch bevorzugen. (Dies wird durch
die Austauschwechselwirkung
der Elektronen erklärt.) Der Ferromagnetismus erscheint deshalb mit dem anomalen
Wert .
Nachweisen lässt sich das durch den Einstein-de-Haas-Effekt,
bei dem ein erst ruhender Eisenstab in Rotation gerät, wenn seine Magnetisierung
umgepolt wird, also sehr viele Spins zugleich umklappen. Hier muss zur Erhaltung
des anfänglichen Gesamtdrehimpulses Null das Umklappen der Spins durch einen
entgegengesetzten makroskopischen Drehimpuls des Stabes kompensiert werden. Das
Experiment ist nicht einfach und ergab in den ersten Jahren vermeintlich die
Bestätigung des damals erwarteten klassischen Werts
.
Erst nach der Entdeckung des anomalen magnetischen Moments des Elektrons mit
Hilfe des Zeeman-Effekts
pendelten sich die Messergebnisse aus dem Einstein-de-Haas-Effekt auch bei
ein.
Wichtige Experimente zum magnetischen Moment des Elektrons
Das magnetische Moment des Elektronenspins ermöglichte im Stern-Gerlach-Versuch den ersten direkten Nachweis der Richtungsquantelung. Die Effekte der magnetischen Elektronenspinresonanz werden zur detaillierten Untersuchung von paramagnetischen Stoffen genutzt.
Folgen für die Entwicklung der Theorie
Der Spin
und der anomale g-Faktor
wurden 1928 von der Dirac-Theorie
des Elektrons ohne weitere Annahme vorhergesagt, was diese Theorie schnell
berühmt machte. Eine 1946 gefundene kleine Abweichung des Elektron-g-Faktors vom
Wert
wurde durch den in der Theorie der Quantenelektrodynamik
möglichen Effekt der Vakuumpolarisation
theoretisch vorhergesagt. Die Abweichung vom Wert 2 beträgt nur 1 ‰, ist aber
heute bis auf 10 Dezimalstellen genau gemessen worden, um erst diese Theorie und
dann das volle Standardmodell
zu testen. Noch ist keine signifikante Abweichung gefunden worden.
Literatur
- G. E. Uhlenbeck, S. Goudsmit: Ersetzung der Hypothese vom unmechanischen Zwang durch eine Forderung bezüglich des inneren Verhaltens jedes einzelnen Elektrons. In: Naturwissenschaften. Bd. 13 Nr. 47, 1925, S. 953..
- S. Goudsmit, G. E. Uhlenbeck: Spinning Electrons and the Structure of Spectra. In: Nature. Bd. 117, 1926, S. 264–265.
- Max Jammer: The Conceptual Development of Quantum Mechanics, McGraw-Hill, New York, 1966, S. 150.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 14.08. 2023