Kanonische Transformation
In der klassischen Mechanik bezeichnet man eine aktive Transformation des Phasenraums als kanonisch, wenn sie wesentliche Aspekte der Dynamik invariant lässt. Die Invarianz der hamiltonschen Gleichungen ist dabei ein notwendiges, jedoch nicht hinreichendes, Kriterium. Notwendig und hinreichend ist die Invarianz der Poisson-Klammern, ein weiteres notwendiges Kriterium ist die Invarianz des Phasenraumvolumens. Ziel dabei ist, die neue Hamilton-Funktion möglichst zu vereinfachen, im Idealfall sogar unabhängig von einer oder mehreren Variablen zu machen. In dieser Funktion sind kanonische Transformationen der Ausgangspunkt zum Hamilton-Jacobi-Formalismus. Kanonische Transformationen können aus sogenannten erzeugenden Funktionen konstruiert werden.
Wichtige Beispiele kanonischer Transformationen sind Transformationen des Phasenraums, die von Transformationen des Konfigurationsraums induziert werden – sogenannte Punkttransformationen – sowie der kanonische Fluss bei festgehaltener Zeitkonstanten, also Transformationen des Phasenraums, die durch Fortschreiten der Dynamik um eine konstante Zeitdifferenz entstehen. Die erzeugende Funktion in letzterem Fall ist die Hamiltonsche Prinzipalfunktion und entspricht gerade der Wirkung zwischen den beiden Zeitpunkten, aufgefasst als Funktion der alten und neuen Koordinaten.
Zeitunabhängiger Fall
Im Folgenden wird zunächst nur der einfachere zeitunabhängige Fall behandelt. Der zeitabhängige Fall wird in einem eigenen Abschnitt dargestellt. Ferner sind folgende Ausführungen als lokale Beschreibung der Transformationen in Bündelkarten anzusehen. Für das Verständnis der globalen Zusammenhänge ist die Verwendung des Differentialformenkalküls unerlässlich. Sie werden ebenfalls in einem eigenen Abschnitt dargestellt.
Definition
Man betrachte ein Hamiltonsches System mit f Freiheitsgraden und der
Hamilton-Funktion
,
die von den Koordinaten
und Impulsen
abhängt. Die kanonischen
Gleichungen (hamiltonsche Bewegungsgleichungen) lauten somit:
wobei im Folgenden für die Argumente
der Übersichtlichkeit halber kurz
geschrieben wird. Gesucht sind Transformationen
,
die die kanonischen Gleichungen invariant lassen, d.h., durch
Substitution
in der Hamilton-Funktion
soll dieselbe Dynamik beschrieben werden:
Die Gültigkeit der Hamiltonschen Gleichungen ist äquivalent zum Hamiltonschen Extremalprinzip
wobei die
und
unabhängig voneinander variiert werden. Für die gleichzeitige Gültigkeit dieses
und des äquivalenten Variationsprinzips für das transformierte System ist es
hinreichend, dass sich die Integranden nur bis auf einen konstanten Faktor
(d.h. bis auf eine Skalentransformation) und eine totale Zeitableitung
unterscheiden:
Kanonisch (eigentlich lokal kanonisch) heißen gerade die Transformationen,
die obige Gleichung mit
erfüllen
(solche mit anderen Koeffizienten werden auch als extended canonical
transformations bezeichnet und sind immer als Komposition einer kanonischen
Transformation und einer Skalentransformation darstellbar).
Für diese gilt:
Andere Transformationen, die auch die kanonische Form der
Bewegungsgleichungen invariant lassen (denkbar wären auch solche, die eine neue
Hamilton-Funktion einführen, wie es ohnehin im zeitabhängigen Fall geschieht),
haben den Nachteil, dass sie sich nicht aus einer erzeugenden Funktion herleiten
lassen und wichtige Resultate wie z.B. der Satz von Liouville oder die
Invarianz der Poisson-Klammern nicht gelten. Beispielsweise lässt auch die
Transformation
die kanonischen Gleichungen invariant, wird aber nicht zu den kanonischen
Transformationen gezählt.
Poisson-Klammern
Die Poisson-Klammer
glatter Funktionen
und
auf dem Phasenraum bzgl.
und
ist durch
definiert. Die Poisson-Klammern bezüglich alter und neuer Koordinaten stimmen überein, es gilt also
genau dann, wenn die Transformation
kanonisch ist (streng genommen, sollten die Funktionen auf der rechten Seite als
pushforward
aufgefasst werden). Äquivalent ist ebenfalls die folgende Beziehung zwischen den
fundamentalen Poisson-Klammern:
Dabei ist
das Kronecker-Delta.
Diese Eigenschaft wird auch gelegentlich zur Definition kanonischer
Transformationen verwendet.
Erzeugende Funktionen
Kanonische Transformationen können durch erzeugende Funktionen (kurz auch Erzeugende) gefunden und konstruiert werden.
Die Transformation
ist genau dann kanonisch, wenn
Dabei ist
eine glatte Funktion auf dem Phasenraum und
ihr Differential. Die Funktionalmatrix der Transformation hat die Gestalt
Von den vier Teilmatrizen können einige singulär sein. Unter ihnen sind jedoch mindestens zwei reguläre, da für die Determinante einer Blockmatrix
gilt. Für das Folgende sei zunächst angenommen, dass
gilt. Dann kann
:
Falls ,
so ist gewiss
.
Dann kann
substituiert werden. Es ist
.
Das heißt:
Es ergibt sich:
Von den Koordinaten
kann für jeden Index
eine ausgewählt werden, um zusammen mit den
eine Klasse unabhängiger Variablen einer erzeugenden Funktion zu liefern.
Demnach gibt es für ein Hamiltonsches System von
Freiheitsgraden
Klassen erzeugender Funktionen. Sie gehen jeweils durch eine
Legendre-Transformation ineinander über.
Auf analoge Weise können erzeugende Funktionen der Klassen
und
gewählt werden. Die Transformationsregeln für die vier gängigen Klassen
erzeugender Funktionen lauten:
Erzeugende Funktion | Kanonische Transformation |
In der Literatur wird manchmal
und manchmal eine der
als kanonische Transformation bezeichnet,
die beiden Begriffe stimmen für die Klasse
überein.
Eine wichtige Eigenschaft erzeugender Funktionen der Klasse
ist ihre Additivität bei Hintereinanderausführung kanonischer Transformationen.
Gilt etwa
so gilt auch
Satz von Liouville
Kanonische Transformationen lassen das Phasenraumvolumen
invariant.
Im geometrischen Formalismus wird das Phasenraumvolumen durch die Differentialform
beschrieben. Da das Dachprodukt natürlich ist, gilt
und der Satz von Liouville ist ohne großen Aufwand bewiesen.
Beispiele
Im Folgenden sind einige kanonische Transformationen aufgelistet:
- Die identische Transformation
ist trivialerweise kanonisch mit der erzeugenden Funktion
.
- Die Transformation
ist nicht kanonisch. Jedoch ist
kanonisch.
- Punkttransformationen des Konfigurationsraums
induzieren kanonische Transformationen, wenn die Impulse gemäß
transformiert werden (es handelt sich um das Transformationsverhalten von Kotangentialvektoren). Als erzeugende Funktion kann
verwendet werden.
- Die Zeitentwicklung induziert eine lokale kanonische Transformation: Es
sei
fest gewählt (falls die hamiltonschen Gleichungen keinen vollständigen Fluss erzeugen, muss
hinreichend klein gewählt werden). Zu
sei
eine Integralkurve der hamiltonschen Gleichungen mit
und es sei
. Die Transformation
hat die Erzeugende
die Hamiltonsche Prinzipalfunktion oder Wirkungsfunktion.
- Lineare Transformationen sind genau dann kanonisch, wenn ihre Matrizen
symplektisch sind. Es sei
zusammengefasst. Dann ist durch
genau dann eine kanonische Transformation gegeben, falls
,
, wobei
die Einheitsmatrix bezeichnet. Symplektische Matrizen haben immer die Determinante 1. Ferner ist
genau dann Eigenwert von
, wenn
Eigenwerte sind, und die entsprechenden Eigenräume sind isomorph.
Globale kanonische Transformationen
Für das Verständnis der globalen Zusammenhänge ist der Differentialformenkalkül unerlässlich.
Der Konfigurationsraum eines mechanischen Systems mit
Freiheitsgraden wird durch eine glatte
-dimensionale
Mannigfaltigkeit
modelliert. Die Lagrange-Funktion ist eine Funktion der verallgemeinerten
Koordinaten und Geschwindigkeiten, also eine glatte Funktion auf dem
Tangentialbündel
.
Durch eine Legendre-Transformation wird ein Isomorphismus zwischen dem
Tangentialbündel und dem
Kotangentialbündel hergestellt gemäß
Dabei wird sich hier und im Folgenden, wenn von Koordinaten
gesprochen wird, immer auf Bündelkarten bezogen, das heißt, die Karten sind von
der Form
wobei
eine Karte von
um
ist,
definiert ist mit einer den Tangentialvektor
repräsentierenden Kurve
,
und mit einem hochgestellten T die duale Abbildung bezeichnet wird. Diese
Kartenwahl hat den Vorteil, dass die natürliche Paarung eines Tangential- und
eines Kotangentialvektors mit dem euklidischen Skalarprodukt übereinstimmt
(hier wird die Einsteinsche
Summenkonvention verwendet).
Auf dem Kotangentialbündel gibt es einen natürlichen Zusammenhang zwischen
Elementen
und Tangentialvektoren
:
.
Dieser Zusammenhang soll nun auf Tangentialvektoren des Kotangentialbündels
erweitert werden: Die natürliche Projektion
besitzt die Ableitung
.
Die für
durch
definierte Differential-1-Form auf
heißt kanonische 1-Form, in einer Bündelkarte hat sie die Form
.
Ihr negatives Differential
heißt kanonische 2-Form (sie macht das Kotangentialbündel zu einer
symplektischen
Mannigfaltigkeit).
Kanonische Transformationen sind Diffeomorphismen ,
die die kanonische 2-Form invariant lassen, d.h.
(allgemeiner bezeichnet man solche Abbildungen zwischen symplektischen
Mannigfaltigkeiten als Symplektomorphismus, sie stellen also eine
Verallgemeinerung kanonischer Transformationen dar). Entsprechende lokale
Diffeomorphismen heißen lokale kanonische Transformation. Somit ist
,
d.h., nach dem Lemma von Poincaré ist
lokal (auf sternförmigen Gebieten auch global) exakt:
Hieraus folgt insbesondere, dass erzeugende Funktionen eine kanonische Transformation nur lokal beschreiben müssen.
Die kanonische 2-Form definiert auch einen Zusammenhang
zwischen 1-Formen und Vektorfeldern gemäß
Insbesondere wird
als hamiltonsches Vektorfeld bezeichnet (entsprechende Definitionen macht man
für beliebige glatte Funktionen), es erzeugt gerade den kanonischen Fluss. Die
Poisson-Klammern lassen sich koordinatenfrei durch
definieren. Auf diese Weise wird der Zusammenhang zwischen kanonischen
Transformationen und den Poisson-Klammern besonders deutlich. Zunächst wird
gezeigt, dass sich hamiltonsche Vektorfelder natürlich transformieren. Für
beliebige Vektorfelder
und
gilt:
Jedoch ist auch
und somit
Nun ist aber für glatte Funktionen
Die beiden Ausdrücke stimmen also genau dann überein, wenn
also wenn
eine kanonische Transformation ist.
Zeitabhängiger und relativistischer Fall
Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Zeit in den Formalismus zu
integrieren.
Vor allem auch für den relativistischen Fall ist es besonders günstig, den
Konfigurationsraum um eine Zeitvariable zum sogenannten erweiterten
Konfigurationsraum zu erweitern.
Der erweiterte Phasenraum enthält dann zwei weitere Variable, die der Zeit
entsprechende Impulsvariable wird üblicherweise mit
bezeichnet. Insofern die Hamiltonfunktion
im nichtrelativischen Fall die Energie ausdrückt, kann die neue
Hamiltonfunktion
eingeführt werden, die zwar keine physikalische Bedeutung hat, jedoch die
korrekten Bewegungsgleichungen liefert. Die kanonischen Formen werden ohne
Änderung definiert und nehmen in Koordinaten die Gestalten
und
an. Das hamiltonsche Vektorfeld
erzeugt dann den Fluss:
Außerdem ist
konstant entlang einer Integralkurve, sodass physikalisch nur der Fall
relevant ist und
mit
sowie
identifiziert werden kann.
Für den relativistischen Fall sind auch kanonische Transformationen relevant, die die Zeitvariable ändern. Für den nichtrelativistischen Fall sind solche Transformationen uninteressant. Im Folgenden werden die alten Koordinaten mit einem Querstrich gekennzeichnet. Es gelte nun
Es wird angenommen, dass die neuen Koordinaten und die alten Impulse als
Koordinaten verwendet werden können. Dann setzt man
ein und erhält:
Um sicherzustellen, dass
transformiert wird, kann
verwendet werden. Sodann lauten die Transformationsregeln:
Hierbei wird
invariant gelassen, die Hamilton-Funktion
im Allgemeinen also verändert. Falls
die Hamilton-Jacobi-Gleichung erfüllt, d.h.
so folgt
und das System wird ins Gleichgewicht transformiert.
Symplektische Struktur
Die Funktionalmatrizen kanonischer Transformationen
bilden eine symplektische Gruppe, besitzen also die Eigenschaft
mit
und der f×f-Einheitsmatrix .
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 29.12. 2019