Satz von Picard-Lindelöf
Der Satz von Picard-Lindelöf ist in der Mathematik, neben dem Satz von Peano, ein grundlegender Satz der Theorie über die Existenz von Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichungen. Er wurde erstmals 1890 von Ernst Leonard Lindelöf in einem Artikel zur Lösbarkeit von Differentialgleichungen aufgestellt. Um die gleiche Zeit beschäftigte sich auch Émile Picard mit der schrittweisen Approximation von Lösungen. Diese Picarditeration, eine Fixpunktiteration im Sinne des Fixpunktsatzes von Banach, ist der Kern moderner Beweise dieses Satzes.
Er wird auch als Satz von Cauchy-Lipschitz bezeichnet (nach Augustin-Louis Cauchy und Rudolf Lipschitz) oder als Existenzsatz von Picard.
Ähnlich wie im Satz von Peano wird auch dieser Satz in mehreren, aufeinander aufbauenden Versionen formuliert und bewiesen.
-
- Die lokale Version besagt, dass jedes Anfangswertproblem
zu einer Differentialgleichung
unter Voraussetzung der Lipschitz-Bedingung (s.u.) in einer gewissen Umgebung von
eindeutig gelöst werden kann. Die Größe dieser Umgebung hängt dabei stark von der rechten Seite
ab.
- Die globale Version besagt, dass ein solches Anfangswertproblem, das
auf einem senkrechten Streifen
eine globale Lipschitz-Bedingung erfüllt, auf dem gesamten Intervall
eine eindeutige Lösung besitzt.
- Die lokale Version besagt, dass jedes Anfangswertproblem
zu einer Differentialgleichung
Besitzt man erst einmal eine (lokale) Lösung, kann man aus dieser in einem zweiten Schritt auf die Existenz einer nicht-fortsetzbaren Lösung schließen. In dieser Hinsicht ist der Satz von Picard-Lindelöf der erste Schritt für die Existenztheorie einer Differentialgleichung.
Bemerkung zur theoretischen Einbettung: Im Sinne einer möglichst
knappen Darstellung ist es ausreichend, aus der Stetigkeit der rechten Seite
mit dem Satz von Peano auf die Existenz von (möglicherweise mehreren) maximalen
Lösungen zu schließen, und mit der gronwallschen
Ungleichung auf die Eindeutigkeit der Lösung. Dieser Weg wird in
einführenden Kursen meist nicht gewählt, da der Satz von Peano auf dem Satz von
Arzelà-Ascoli aufbaut, während der Satz von Picard-Lindelöf mit wesentlich
elementareren Mitteln, wie dem Fixpunktsatz von Banach, bewiesen werden kann.
Problemstellung
Sei
oder
oder sei allgemeiner
ein reeller Banachraum.
Im einfachsten Fall ist
.
Es lassen sich alle Aussagen, die in diesem einfachsten Fall getroffen und
bewiesen werden, durch einfache Änderung der Notation auf den allgemeinen Fall
übertragen. Es muss dazu nur
durch
ersetzt werden, d.h. der Absolutbetrag durch die Norm des Banachraumes.
Eine Differentialgleichung für eine Funktion mit Werten in
ist eine Gleichung der Form
.
Die Funktion
der rechten Seite ist dabei auf einem (offenen) Gebiet
definiert und hat Werte in
,
.
Oft wird der Definitionsbereich
in Form eines vertikalen Streifens vorausgesetzt, dann ist
.
Eine stetig differenzierbare Funktion
für ein Intervall
ist eine (lokale) Lösung der Differentialgleichung, wenn für alle
sowohl
als auch
gelten.
Die Frage ist nun, ob sich bei Vorgabe eines Punktes
eine lokale Lösung der Differentialgleichung finden lässt, deren
Definitionsbereich
enthält, und die gleichzeitig
erfüllt.
Der Satz in seinen Versionen
Die Voraussetzungen der Satzversionen sind immer die Stetigkeit der rechten Seite und das Bestehen einer Lipschitz-Bedingung. Diese Lipschitz-Bedingung wird oft als „lokale Lipschitz-Stetigkeit in der zweiten Variablen“ beschrieben.
Globale und lokale Lipschitz-Bedingung
Definition: Seien
und
gegeben. Es wird gesagt, dass
eine (globale) Lipschitz-Bedingung auf
in der zweiten Variablen erfüllt, wenn es eine Konstante
gibt, sodass für jedes
und Punkte
mit
die Ungleichung
gilt.
Definition: Seien
und
gegeben. Es wird gesagt, dass
eine lokale Lipschitz-Bedingung auf
in der zweiten Variablen erfüllt, wenn es für jeden Punkt
eine Umgebung
gibt, auf der die Einschränkung von
auf
eine (globale) Lipschitz-Bedingung erfüllt.
Bemerkungen:
- Die Umgebung
der lokalen Lipschitz-Bedingung kann immer als Kugel bzw. Zylinder
gewählt werden, da es in jeder offenen Menge eine Teilmenge dieser Gestalt für jeden ihrer Punkte geben muss. Darin bezeichnet
die offene Kugel um
mit Radius
.
- Jede stetig partiell nach der zweiten Variablen differenzierbare Funktion mit konvexem Definitionsbereich erfüllt auch eine lokale Lipschitz-Bedingung in der zweiten Variablen, da nach dem Mittelwertsatz
-
- mit einer geeigneten Norm der Ableitung gilt. Als stetige Funktion ist die Norm der Ableitung lokal beschränkt, woraus die Lipschitz-Bedingung in der zweiten Variablen folgt.
Lokale Version des Satzes von Picard-Lindelöf
Sei
ein Banachraum,
,
mit
und
stetig und lokal Lipschitz-stetig in der zweiten Variablen. Hierin bezeichnet
die abgeschlossene Kugel um
mit Radius
.
Ist
und
dann existiert genau eine Lösung des Anfangswertproblems
auf dem Intervall ;
sie hat Werte in
.
Globale Version des Satzes von Picard-Lindelöf
Es sei
ein Banachraum und
eine stetige Funktion, die
eine globale Lipschitz-Bedingung
bezüglich der zweiten Variablen erfüllt. Dann gibt es zu jedem
eine globale Lösung
des Anfangswertproblems
.
Es gibt keine weiteren (lokalen) Lösungen.



© biancahoegel.de
Datum der letzten Änderung: Jena, den: 18.06. 2020