Zufallsvariable
In der Stochastik ist eine Zufallsvariable oder Zufallsgröße (auch zufällige Größe, Zufallsveränderliche, selten stochastische Variable oder stochastische Größe) eine Größe, deren Wert vom Zufall abhängig ist. Formal ist eine Zufallsvariable eine Zuordnungsvorschrift, die jedem möglichen Ergebnis eines Zufallsexperiments eine Größe zuordnet. Ist diese Größe eine Zahl, so spricht man von einer Zufallszahl. Beispiele für Zufallszahlen sind die Augensumme von zwei geworfenen Würfeln und die Gewinnhöhe in einem Glücksspiel. Zufallsvariablen können aber auch komplexere mathematische Objekte, wie Zufallsbewegungen, Zufallspermutationen oder Zufallsgraphen, sein.
Über verschiedene Zuordnungsvorschriften können einem Zufallsexperiment auch verschiedene Zufallsvariablen zugeordnet werden. Den einzelnen Wert, den eine Zufallsvariable bei der Durchführung eines Zufallsexperiments annimmt, nennt man Realisation oder im Falle eines stochastischen Prozesses einen Pfad.
Während früher der von A. N. Kolmogorow eingeführte Begriff Zufallsgröße der übliche deutsche Begriff war, hat sich heute (ausgehend vom englischen random variable) der etwas irreführende Begriff Zufallsvariable durchgesetzt.
Motivation des formalen Begriffs
Die Funktionswerte
einer Zufallsvariablen
sind abhängig von einer den Zufall repräsentierenden Größe
.
Zum Beispiel kann
das zufällige Ergebnis
eines Münzwurfs sein. Dann kann zum Beispiel eine Wette auf den Ausgang eines Münzwurfs mithilfe einer
Zufallsvariablen modelliert werden. Angenommen, es wurde auf Zahl gewettet, und
wenn richtig gewettet wurde, wird 1 EUR ausgezahlt, sonst nichts. Sei
die Auszahlungssumme. Da der Wert von
vom Zufall abhängt, ist
eine Zufallsvariable, insbesondere eine reelle
Zufallsvariable. Sie bildet die Menge der Wurfergebnisse
auf die Menge der möglichen Auszahlungsbeträge
ab:
Wettet man bei zwei Münzwürfen beide Male auf Kopf und bezeichnet die
Kombination der Ausgänge der Münzwürfe mit ,
so lassen sich beispielsweise folgende Zufallsvariablen untersuchen:
als Auszahlung nach der ersten Wette,
als Auszahlung nach der zweiten Wette,
als Summe der beiden Auszahlungen.
Zufallsvariable selbst werden üblicherweise mit einem Großbuchstaben
bezeichnet (hier ),
während man für die Realisierungen die entsprechenden Kleinbuchstaben verwendet
(so beispielsweise für
die Realisierungen
,
,
).
Im Beispiel hat die Menge
eine konkrete Interpretation. In der weiteren Entwicklung der
Wahrscheinlichkeitstheorie
ist es oft zweckmäßig, die Elemente von
als abstrakte Repräsentanten des Zufalls zu betrachten, ohne ihnen eine konkrete
Bedeutung zuzuweisen, und dann sämtliche zu modellierende Zufallsvorgänge als
Zufallsvariable zu erfassen.
Definition
Als Zufallsvariable bezeichnet man eine messbare Funktion von einem Wahrscheinlichkeitsraum in einen Messraum.
Eine formale mathematische Definition lässt sich wie folgt geben:
- Es seien
ein Wahrscheinlichkeitsraum und
ein Messraum. Eine
-messbare Funktion
heißt dann eine
-Zufallsvariable auf
.
Beispiel: Zweimaliger Würfelwurf
![](bilder/Twodice.png)
Das Experiment, mit einem fairen Würfel zweimal zu würfeln, lässt sich mit
folgendem Wahrscheinlichkeitsraum
modellieren:
ist die Menge der 36 möglichen Ergebnisse
ist die Potenzmenge von
- Will man zwei unabhängige Würfe mit einem fairen Würfel modellieren, so
setzt man alle 36 Ergebnisse gleich wahrscheinlich, wählt also das
Wahrscheinlichkeitsmaß
als
für
.
Die Zufallsvariablen
(gewürfelte Zahl des ersten Würfels),
(gewürfelte Zahl des zweiten Würfels) und
(Augensumme des ersten und zweiten Würfels) werden als folgende Funktionen
definiert:
und
wobei für
die borelsche
σ-Algebra auf den reellen Zahlen gewählt wird.
Bemerkungen
In der Regel wird auf die konkrete Angabe der zugehörigen Räume verzichtet;
es wird angenommen, dass aus dem Kontext klar ist, welcher
Wahrscheinlichkeitsraum auf
und welcher Messraum auf
gemeint ist.
Bei einer endlichen Ergebnismenge
wird
meistens als die Potenzmenge von
gewählt. Die Forderung, dass die verwendete Funktion messbar ist, ist dann immer
erfüllt. Messbarkeit wird erst wirklich bedeutsam, wenn die Ergebnismenge
überabzählbar
viele Elemente enthält.
Einige Klassen von Zufallsvariablen mit bestimmten Wahrscheinlichkeits- und Messräumen werden besonders häufig verwendet. Diese werden teilweise mit Hilfe alternativer Definitionen eingeführt, die keine Kenntnisse der Maßtheorie voraussetzen:
Reelle Zufallsvariable
Bei reellen Zufallsvariablen ist der Bildraum die Menge
der reellen Zahlen versehen mit
der borelschen
-Algebra.
Die allgemeine Definition von Zufallsvariablen lässt sich in diesem Fall zur
folgenden Definition vereinfachen:
- Eine reelle Zufallsvariable ist eine Funktion
, die jedem Ergebnis
aus einer Ergebnismenge
eine reelle Zahl
zuordnet und die folgende Messbarkeitsbedingung erfüllt:
Das bedeutet, dass die Menge aller Ergebnisse, deren Realisierung unterhalb eines bestimmten Wertes liegt, ein Ereignis bilden muss.
Im Beispiel des zweimaligen Würfelns sind ,
und
jeweils reelle Zufallsvariable.
Mehrdimensionale Zufallsvariable
Eine mehrdimensionale Zufallsvariable ist eine messbare Abbildung
für eine Dimension
.
Sie wird auch als Zufallsvektor bezeichnet. Damit ist
gleichzeitig ein Vektor von einzelnen reellen Zufallsvariablen
,
die alle auf dem gleichen Wahrscheinlichkeitsraum definiert sind. Die Verteilung
von
wird als multivariat
bezeichnet, die Verteilungen der Komponenten
nennt man auch Randverteilungen.
Die mehrdimensionalen Entsprechungen von Erwartungswert und Varianz sind der
Erwartungswertvektor
und die Kovarianzmatrix.
Im Beispiel des zweimaligen Würfelns ist
eine zweidimensionale Zufallsvariable.
Zufallsvektoren sollten nicht mit
Wahrscheinlichkeitsvektoren
(auch stochastische Vektoren genannt) verwechselt werden. Diese sind Elemente
des ,
deren Komponenten positiv sind und deren Summe 1 ergibt. Sie beschreiben die
Wahrscheinlichkeitsmaße auf Mengen mit
Elementen.
Komplexe Zufallsvariable
Bei komplexen Zufallsvariablen ist der Bildraum die Menge
der komplexen Zahlen versehen
mit der durch die kanonische Vektorraumisomorphie zwischen
und
„geerbten“ borelschen σ-Algebra.
ist genau dann eine Zufallsvariable, wenn Realteil
und Imaginärteil
jeweils reelle Zufallsvariablen sind.
Die Verteilung von Zufallsvariablen, Existenz
Eng verknüpft mit dem eher technischen Begriff einer Zufallsvariablen ist der
Begriff der auf dem Bildraum von
induzierten Wahrscheinlichkeitsverteilung.
Mitunter werden beide Begriffe auch synonym verwendet. Formal wird die
Verteilung
einer Zufallsvariablen
als das Bildmaß des
Wahrscheinlichkeitsmaßes
definiert, also
für alle
, wobei
die auf dem Bildraum der Zufallsvariablen
gegebene σ-Algebra ist.
Statt
werden in der Literatur für die Verteilung von
auch die Schreibweisen
oder
verwendet.
Spricht man also beispielsweise von einer normalverteilten Zufallsvariablen, so ist damit eine Zufallsvariable mit Werten in den reellen Zahlen gemeint, deren Verteilung einer Normalverteilung entspricht.
Eigenschaften, welche sich allein über gemeinsame Verteilungen von Zufallsvariablen ausdrücken lassen, werden auch wahrscheinlichkeitstheoretisch genannt. Für Behandlung solcher Eigenschaften ist es nicht notwendig, die konkrete Gestalt des (Hintergrund-)Wahrscheinlichkeitsraumes zu kennen, auf dem die Zufallsvariablen definiert sind.
Häufig wird deswegen von einer Zufallsvariablen lediglich die
Verteilungsfunktion angegeben und der zu Grunde liegende Wahrscheinlichkeitsraum
offen gelassen. Dies ist vom Standpunkt der Mathematik erlaubt, sofern es
tatsächlich einen Wahrscheinlichkeitsraum gibt, der eine Zufallsvariable mit der
gegebenen Verteilung erzeugen kann. Ein solcher Wahrscheinlichkeitsraum
lässt sich aber zu einer konkreten Verteilung leicht angeben, indem
beispielsweise
,
als die Borelsche σ-Algebra auf den reellen Zahlen und
als das durch die Verteilungsfunktion induzierte Lebesgue-Stieltjes-Maß
gewählt wird. Als Zufallsvariable kann dann die identische
Abbildung
mit
gewählt werden.
Wenn eine Schar von Zufallsvariablen betrachtet wird, reicht es aus wahrscheinlichkeitstheoretischer Perspektive genauso, die gemeinsame Verteilung der Zufallsvariablen anzugeben, die Gestalt des Wahrscheinlichkeitsraums kann wiederum offen gelassen werden.
Die Frage nach der konkreten Gestalt des Wahrscheinlichkeitsraumes tritt also in den Hintergrund, es ist jedoch von Interesse, ob zu einer Schar von Zufallsvariablen mit vorgegebenen endlichdimensionalen gemeinsamen Verteilungen ein Wahrscheinlichkeitsraum existiert, auf dem sie sich gemeinsam definieren lassen. Diese Frage wird für unabhängige Zufallsvariablen durch einen Existenzsatz von É. Borel gelöst, der besagt, dass man im Prinzip auf den von Einheitsintervall und Lebesgue-Maß gebildeten Wahrscheinlichkeitsraum zurückgreifen kann. Ein möglicher Beweis nutzt, dass sich die binären Nachkommastellen der reellen Zahlen in [0,1] als ineinander verschachtelte Bernoulli-Folgen betrachten lassen.
Mathematische Attribute für Zufallsvariablen
Verschiedene mathematische Attribute, die in der Regel denen für allgemeine Funktionen entlehnt sind, finden bei Zufallsvariablen Anwendung. Die häufigsten werden in der folgenden Zusammenstellung kurz erklärt:
diskret
Eine Zufallsvariable wird als diskret bezeichnet, wenn
sie nur endlich
viele oder abzählbar
unendlich viele Werte annimmt. Im obigen Beispiel des zweimaligen Würfelns
sind alle drei Zufallsvariablen ,
und
diskret. Ein weiteres Beispiel für diskrete Zufallsvariablen sind zufällige
Permutationen.
konstant
Eine Zufallsvariable wird als konstant
bezeichnet, wenn sie nur einen Wert annimmt:
für alle
.
Sie ist ein Spezialfall der diskreten Zufallsvariable.
unabhängig
Zwei reelle Zufallsvariablen
heißen unabhängig, wenn für je zwei Intervalle
und
die Ereignisse
und
stochastisch
unabhängig sind. Das sind sie, wenn gilt:
.
In obigem Beispiel sind
und
unabhängig voneinander; die Zufallsvariablen
und
hingegen nicht.
Unabhängigkeit mehrerer Zufallsvariablen
bedeutet, dass das Wahrscheinlichkeitsmaß
des Zufallsvektors
dem Produktmaß der
Wahrscheinlichkeitsmaße der Komponenten, also dem Produktmaß von
entspricht.
So lässt sich beispielsweise dreimaliges unabhängiges Würfeln durch den
Wahrscheinlichkeitsraum
mit
,
der Potenzmenge von
und
modellieren; die Zufallsvariable "Ergebnis des -ten
Wurfes" ist dann
für
.
Die Konstruktion eines entsprechenden Wahrscheinlichkeitsraums für eine beliebige Familie unabhängiger Zufallsvariable mit gegebenen Verteilungen ist ebenfalls möglich.
identisch verteilt
Zwei oder mehr Zufallsvariablen heißen identisch verteilt (bzw. i.d. für
identically distributed), wenn ihre induzierten
Wahrscheinlichkeitsverteilungen gleich sind. In Beispiel des zweimaligen
Würfelns sind ,
identisch verteilt; die Zufallsvariablen
und
hingegen nicht.
unabhängig und identisch verteilt
Häufig werden Folgen von Zufallsvariablen untersucht, die sowohl unabhängig als auch identisch verteilt sind; demnach spricht man von unabhängig identisch verteilten Zufallsvariablen. Dieser Fall wird üblicherweise mit u.i.v. bzw. i.i.d. (für independent and identically distributed) abgekürzt.
In obigem Beispiel des dreimaligen Würfelns sind ,
und
i.i.d. Die Summe der ersten beiden Würfe
und die Summe des zweiten und dritten Wurfs
sind zwar identisch verteilt, aber nicht unabhängig. Dagegen sind
und
unabhängig, aber nicht identisch verteilt.
austauschbar
Austauschbare Familien von Zufallsvariablen sind Familien, deren Verteilung sich nicht ändert, wenn man endlich viele Zufallsvariablen in der Familie vertauscht. Austauschbare Familien sind stets identisch verteilt, aber nicht notwendigerweise unabhängig.
Mathematische Attribute für reelle Zufallsvariablen
Kenngrößen
Zur Charakterisierung von Zufallsvariablen dienen einige wenige Funktionen, die wesentliche mathematische Eigenschaften der jeweiligen Zufallsvariable beschreiben. Die wichtigste dieser Funktionen ist die Verteilungsfunktion, die Auskunft darüber gibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Zufallsvariable einen Wert bis zu einer vorgegebenen Schranke annimmt, beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, höchstens eine Vier zu würfeln. Bei stetigen Zufallsvariablen wird diese durch die Wahrscheinlichkeitsdichte ergänzt, mit der die Wahrscheinlichkeit berechnet werden kann, dass die Werte einer Zufallsvariablen innerhalb eines bestimmten Intervalls liegen. Des Weiteren sind Kennzahlen wie der Erwartungswert, die Varianz oder höhere mathematische Momente von Interesse.
stetig oder kontinuierlich
Das Attribut stetig wird für unterschiedliche Eigenschaften verwendet.
-
- Eine reelle Zufallsvariable wird als stetig (oder auch absolut stetig) bezeichnet, wenn sie eine Dichte besitzt (ihre Verteilung absolutstetig bezüglich des Lebesgue-Maßes ist).
- Eine reelle Zufallsvariable wird als stetig bezeichnet, wenn sie eine
stetige Verteilungsfunktion
besitzt.
Insbesondere bedeutet das, dass
für alle
gilt.
Messbarkeit, Verteilungsfunktion und Erwartungswert
Wenn eine reelle Zufallsvariable
auf dem Ergebnisraum
und eine messbare Funktion
gegeben ist, dann ist auch
eine Zufallsvariable auf demselben Ergebnisraum, da die Verknüpfung messbarer
Funktionen wieder messbar ist.
wird auch als Transformation der Zufallsvariablen
unter
bezeichnet. Die gleiche Methode, mit der man von einem Wahrscheinlichkeitsraum
nach
gelangt, kann benutzt werden, um die Verteilung von
zu erhalten.
Die Verteilungsfunktion
von
lautet
.
Der Erwartungswert
einer quasi-integrierbaren
Zufallsgröße
von
nach
berechnet sich folgend:
.
integrierbar und quasi-integrierbar
Eine Zufallsvariable heißt integrierbar, wenn der Erwartungswert der Zufallsvariable existiert und endlich ist. Die Zufallsvariable heißt quasi-integrierbar, wenn der Erwartungswert existiert, möglicherweise aber unendlich ist. Jede integrierbare Zufallsvariable ist folglich auch quasi-integrierbar.
Beispiel
Es sei
eine reelle stetig verteilte Zufallsvariable und
.
Dann ist
Fallunterscheidung nach :
Standardisiertheit
Eine Zufallsvariable nennt man standardisiert, wenn ihr Erwartungswert 0 und
ihre Varianz
1 ist. Die Transformation einer Zufallsvariable
in eine standardisierte Zufallsvariable
bezeichnet man als Standardisierung der Zufallsvariable .
Sonstiges
- Zeitlich zusammenhängende Zufallsvariablen können auch als stochastischer Prozess aufgefasst werden
- Eine Folge von Realisierungen einer Zufallsvariable nennt man auch Zufallssequenz
- Eine Zufallsvariable
erzeugt eine σ-Algebra
, wobei
die Borelsche σ-Algebra des
ist.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 23.03. 2024