9. Kapitel | Inhalt | 11. Kapitel

Zehntes Kapitel
Die Ehe als Versorgungsanstalt
1. Die Abnahme der Eheschließungen

163

Es bedarf wohl keines weiteren Nachweises, daß unter den geschilderten Verhältnissen die Zahl derer wächst, die die Ehe nicht als Paradies ansehen und Bedenken tragen, in eine solche einzutreten. Daher die Erscheinung, daß die Zahl der Eheschließungen in den meisten Kulturstaaten im Rückgang begriffen ist oder stationär bleibt. Erfahrungsgemäß wirkten früher schon die hohen Kornpreise eines einzigen Jahres nachteilig auf die Zahl der Eheschließungen wie der Geburten ein. Aber je mehr die Industrialisierung eines Landes fortschreitet, desto mehr wird diese Zahl bedingt durch das Auf und Ab der gesamten ökonomischen Konjunktur. Wirtschaftliche Krisen und wachsende Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftslage müssen dauernd ungünstig wirken. Das bestätigt die Ehestatistik fast aller Kulturländer.

Nach der neuesten Regierungsenquete wurden in den Vereinigten Staaten im Zeitraum von 18S7 bis 1906 12.832.044 Ehen geschlossen.

1887 483.096 1902 746.733
1891 562.412 1903 786.132
1892 577.870 1900 781.145
1893 578.673 1905 804.787
1894 566.161 1906 853.290

Wir sehen also, daß infolge der Krise 1893/94 die Zahl der Eheschließungen im Jahre 1894 nicht nur keine Steigerung erfährt, sondern um 12.512 sinkt. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich im Jahre 1900, das ein Minus von 4.987 Ehen aufweist.

In Frankreich zeigten die Eheschließungen folgendes Bild:

1873 bis 1877 299.000 1895 bis 1897 288.000
1878 bis 1882 281.000 1898 bis 1902 296.000
1883 bis 1887 284.000 1903 bis 1907 306.000
1888 bis 1892 279.000    
164

Die höchste Zahl weist das Jahr 1873 mit 321.258 Ehen auf. Von da an vermindert sich die Zahl der Eheschließungen, um mit dem Aufschwung des Wirtschaftslebens wieder in die Höhe zu gehen. Im Jahre 1907 zeigt Frankreich die höchste Zahl nach 1873: 314.903 Eheschließungen. Diese Zunahme ist in einem gewissen Grade die Folge des neuen Gesetzes vom 21. Juni 1907, das die zur Eheschließung notwendigen Formalitäten vereinfacht und in den armen Bezirken zum Aufschnellen der Eheziffer geführt hat.

Es kamen auf 1.000 der mittleren Bevölkerung Eheschließende:

Staaten 1871 bis 1875 1876 bis 1880 1881 bis 1885 1886 bis 1890 1891 bis 1895 1896 bis 1900 1901 bis 1905 1907
Deutsches Reich 18,84 15,68 15,40 15,68 15,88 16,83 16    16,2
davon Preußen 18,88 15,86 15,92 16,32 16,40 16,86 16,2 16,4
davon Bayern 18,92 14,65 13,64 13,96 14,76 16,09 15,2 15,4
davon Sachsen 19,96 17,70 17,62 18,64 17,52 18,76 16,6 16,8
Österreich 18,30 15,52 15,88 15,40 15,76 16,04 15,8 (1) 15,8
Ungarn 21,50 19,30 20,24 17,72 17,92 16,05 17,2 19,6
Italien 15,54 15,06 14,08 17,64 14,96 14,40 14,8 15,4
Schweiz 16,06 14,90 13,80 14,00 14,72 15,59 15    15,6
Frankreich 16,96 15,16 15,04 14,48 14,90 15,14 15,2 16   
England und Wales 17,08 15,34 15,14 14,70 15,16 16,14 15,6 15,8
Schottland 14,98 13,76 13,76 18,02 13,68 14,94 14    14   
Irland 9,72 9,04 8,66 8,66 9,48 9,87 10,4 10,2
Belgien 15,44 13,94 13,94 14,34 15,24 16,45 16,2 16,2
Niederlande 16,64 15,76 14,28 14,04 14,48 14,88 15    15,2
Dänemark 15,88 15,54 15,38 13,94 13,84 14,79 14,4 15,2
Norwegen 14,58 14,40 13,82 12,76 12,92 13,73 12,4 11,8
Schweden 14,04 13,20 12,84 12,20 11,45 12,04 11,8 12   
Finnland 17,68 15,72 14,90 14,40 12,98 15,34 13    13,6
Europ. Rußland exkl. Weichselgebiet 19,62 17,62 18,06 17,94 17,08 17,80 - -
Bulgarien - - 18,04 17,24 16.07 - - -
Serbien 22,80 23,32 22,14 21,76 18,84 - - -

Daß die Zahl der Eheschließungen in den meisten Ländern, je nachdem industrielle Prosperität oder Krise herrscht, schwankt, zeigt sich ganz eklatant in Deutschland. 1872, das Jahr nach dem Deutsch-Französischen Kriege, ergab für Deutschland, wie das Jahr 1873 für Frankreich, die höchste Zahl der Eheschließenden (423.900). Von 1873 ab fällt diese Zahl und erreicht im Jahre 1879, dem Jahre des Tief-

Trenner

(1) Vom Jahre 1906.

165

standes der Krise, ihren niedersten Grad (335.113); sie steigt dann langsam bis zum Jahre 1890, das noch ein Prosperitätsjahr war; sie fällt abermals im Jahre 1892 und steigt wieder mit den Jahren der Prosperität, um im Jahre 1899 und 1900, dem Höchststand der industriellen Blüte, den Höhepunkt zu erreichen (476.491 im Jahre 1900, 471.519 im Jahre 1899). Die neue Krise bringt einen Niedergang. Im Jahre 1902 fällt die Zahl der Eheschließungen abermals auf 457.208, um in den Jahren. 1906 und 1907 (498.990 und 503.964) wieder den Höhepunkt zu erreichen. Und wenn im Jahre 1906 die Zahl der Eheschließungen um 13.004 höher war als 1905, so zeigen sich schon die Wirkungen der Krise von 1907 in einer verminderten absoluten Zunahme (nur 4.974 im Vergleich mit 1906) und einer relativen Abnahme (statt 8,2 auf 1.000 Einwohner nur 8,1).

Im allgemeinen aber verraten die Zahlen in den meisten Ländern eine sinkende Tendenz der Eheschließungen. Der Höchststand der Eheschließenden um die Mitte der siebziger Jahre wird bis Ende der neunziger Jahre nur ausnahmsweise erreicht, und wie aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich ist, bleibt die große Mehrzahl der europäischen Länder dahinter zurück.

Aber nicht bloß die Erwerbsverhältnisse, auch die Eigentumsverhältnisse wirken in hohem Grade auf die Eheschließungen ein. Schmollers Jahrbuch für 1885, Heft 1, gibt Mitteilungen über die Bevölkerungsstatistik des Königreichs Württemberg, aus welchen schlagend hervorgeht, daß mit der Zunahme des Großgrundbesitzes die Zahl der verheirateten Männer im Alter von 25 bis 30 Jahren abnimmt und die Zahl der unverheirateten Männer zwischen 40 und 50 Jahren zunimmt. (Siehe die Tabelle auf Seite 166.) Der kleine Grundbesitz begünstigt die Eheschließungen, er ermöglicht einer größeren Zahl von Familien eine, wenn auch bescheidene Existenz, dagegen wirkt der große Grundbesitz den Eheschließungen entgegen. Mit fortschreitender Industrialisierung des Landes steigt die Zahl der Eheschließungen in städtischen Berufen. So treffen in Schweden auf je 1.000 Berufsangehörige Eheschließungen in den Jahren 1901 bis 1904:

Landwirtschaft 4,78
Industrie und Bergbau 7,17
Handel und Verkehr 7,75
Freie und sonstige Berufe 6,63
Im Durchschnitt 5,92
166

Alle diese Zahlen beweisen aber, daß nicht moralische, sondern materielle Ursachen entscheidend sind. Die Zahl der Eheschließungen ist wie der Moralzustand einer Gesellschaft einzig von ihren materiellen Grundlagen abhängig.

  Protentanteil des Grundbesitzes in Hektar Protentanteil der Männer
  bis 5 5-20 über 20 verheirateter im Alter von 25-30 Jahren unverhei- rateter im Alter von 40-50 Jahren
Oberamt Neuenbürg 79,6 20,4 0,0 63,6 4,4
Östlich von Stuttgart 78,9 17,7 3,4 51,3 8,1
Südlich von Stuttgart 67,6 24,8 7,6 48,6 8,7
Nördlich von Stuttgart 56,5 34,8 8,8 50,0 10,0
Schwarzwald 50,2 42,2 7,6 48,6 10,1
Oberer Neckar 43,6 40,3 16,1 44,3 10,8
Übergang zum Osten 39,5 47,6 12,8 48,7 10,0
Nordosten, außer nördl. von Hall 22,2 50,1 27,7 38,8 10,6
Schwäbische Alp 20,3 40,8 38,3 38,8 7,5
Nördliches Oberschwaben 19,7 48,0 32,3 32,5 9,7
Von Hall nach Osten 15,5 50,0 43,5 32,5 13,8
Bodenseegebiet 14,2 61,4 24,4 23,5 26,4
Mittl. und südl. Oberschwaben 12,6 41,1 46,3 30,0 19,1

2. Kindesmord und Fruchtabtreibung

Furcht vor Mangel und Bedenken, die Kinder nicht standesgemäß erziehen zu können, ist es auch hauptsächlich, was Frauen aus allen Klassen zu Handlungen treibt, die nicht mit dem Naturzweck, oft auch nicht mit dem Strafgesetzbuch in Übereinstimmung sind. Dahin gehören die verschiedensten Mittel zur Verhinderung der Empfängnis oder, wenn diese wider Willen stattgefunden hat, die Beseitigung der Leibesfrucht, der Abortus. Es wäre falsch zu behaupten, daß diese Mittel nur von leichtfertigen, gewissenlosen Frauen angewandt würden. Vielmehr sind es oft sehr pflichttreue Frauen, welche die Kinderzahl einschränken möchten; und um dem Dilemma zu entgehen, sich dem Gatten versagen zu müssen oder ihn auf Abwege zu drängen, die zu wandeln er Neigung hat, sich lieber der Gefahr der Anwendung abortativer Mittel unterwerfen. Daneben gibt es wieder Frauen, die,

167

um einen "Fehltritt" zu verdecken, oder aus Widerwillen gegen die Unbequemlichkeiteri der Schwangerschaft, des Gebärens und der Erziehung, oder aus Furcht, ihre Reize rascher einzubüßen und bei dem Gatten oder der Männerwelt an Ansehen zu verlieren, solche Handlungen begehen und für schweres Geld bereitwillig ärztliche und geburtshelferische Unterstützung finden.

Der künstliche Abortus kommt, nach verschiedenen Anzeichen zu schließen, immer mehr in Übung. Schon bei den alten Völkern war der Abortus vielfach in Anwendung, und er ist es heute von den zivilisiertesten bis hinab zu den barbarischen. Die alten Griechen betrieben ihn offen, ohne daß die Landesgesetze ihm entgegentraten. Zur Zeit Platos war es Hebammen erlaubt, Aborte herbeizuführen, und Aristoteles ordnete die vorzeitige Geburt bei den Verheirateten in den Fällen an, in denen "die Frau entgegen aller Voraussicht schwanger wurde"(2). Nach Jules Rouyer nahmen die Frauen Roms aus mehreren Gründen Zuflucht zum Abortus. Einmal wollten sie das Ergebnis ihrer unerlaubten Beziehungen verschwinden machen. ferner wollten sie sich der Ausschweifung ununterbrochen hingeben können, sie wollten aber auch die Veränderungen vermeiden, die Schwangerschaft und Geburt am Körper der Frau herbeiführen.(3) Bei den Römern war eine Frau mit 25 bis 30 Jahren alt, und so ging diese allem aus dem Wege, was ihre Reize beeinträchtigen konnte. Im Mittelalter war der Abortus mit schweren Leibesstrafen, sogar mit der Todesstrafe bedroht, und eine freie Frau, die ihn ausführte, wurde Leibeigene.

In der Gegenwart ist besonders der Abortus in der Türkei und in den Vereinigten Staaten in Übung, "Die Türken sind der Ansicht, daß der Fötus bis zum fünften Monat kein wirkliches Leben besitzt; sie haben auch keine Skrupel, einen Abort herbeizuführen. Auch in der Zeit, wo der Abort strafbar wird, wird er nicht weniger ausgeübt. Allein im Zeitraum von sechs Monaten wurden 1872 zu Konstantinopel mehr als 3.000 Fälle von künstlichem Abort verhandelt."(4)

Noch öfter wird er geübt in den Vereinigten Staaten. In allen größeren Städten der Union gibt es Anstalten, in welchen Mädchen und Frauen eine frühzeitige Entbindung bewerkstelligen können; viele

Trenner

(2) E. Metschnikoff, Studien über die Natur des Menschen. S. 135. Leipzig 1904.

(3) Jules Rouyer, Études médicales sur l`ancienne Rome. Paris 1859.

(4) E. Metschnikoff, a.a.O., S. 134, 135.

168

amerikanische Zeitungen enthalten Anzeigen solcher Anstalten.(5) Man spricht in der dortigen Gesellschaft fast ebenso ungeniert über einen künstlichen Abortus wie über eine regelrechte Geburt. In Deutschland und anderen europäischen Ländern bestehen darüber andere Begriffe, und das deutsche Strafgesetzbuch bedroht beispielsweise den Täter wie den Helfer eventuell mit Zuchthausstrafe.

In vielen Fällen ist der Abortus von den schlimmsten Folgen begleitet, nicht selten tritt der Tod ein, in vielen Fällen ist Zerstörung der Gesundheit für immer das Endergebnis. "Die Beschwerden der beschwerlichsten Schwangerschaft und Geburt sind unendlich geringer als die künstlichem Abortus folgenden Leiden."(6) Unfruchtbar werden ist eine seiner gewöhnlichsten Wirkungen. Trotz alledem wird er auch in Deutschland immer häufiger angewandt. So wurden wegen Abtreibung verurteilt in den Jahren 1882 bis 1886 839 Personen, 1897 bis 1901 1.565, 1902 bis 1906 2.236.(7) Die Chronique scandaleuse der letzten Jahre hatte sich mehrfach mit Fällen von Abortus zu befassen, die großes Aufsehen erregten, weil dabei angesehene Ärzte und Frauen aus der vornehmen Gesellschaft eine Rolle spielten. Auch mehren sich, nach der steigenden Zahl der bezüglichen Offerten in unseren Zeitungen zu schließen, die Anstalten und Orte, in welchen verheirateten und unverheirateten Frauen Gelegenheit geboten wird, die Folgen von "Fehltritten" in aller Heimlichkeit abzuwarten.(8)

Die Furcht vor zu großer Kinderzahl in Rücksicht auf das vorhandene Eigentum und die Kosten der Erziehung hat auch in ganzen Klassen und bei ganzen Völkern die Anwendung von Präventivmaßregeln zu einem System entwickelt, das zur öffentlichen Kalamität zu werden droht. So ist es eine allgemein bekannte Tatsache, daß fast in allen Schichten der französischen Gesellschaft das Zweikindersystem durchgeführt wird. In wenig Kulturländern der Welt sind verhältnismäßig die Ehen so zahlreich als in Frankreich, aber in keinem Lande

Trenner

(5) P. Brouardel, L`avortement. S. 36 bis 39. Paris 1901. Nach einer offiziellen Enquete wurden in New York bis zu 200 Personen gezählt, die aus der Fruchtabtreibung ein Gewerbe machen.

(6) Ed. Reich, Geschichte und Gefahren der Fruchtabtreibung, 2. Auflage. Leipzig 1895.

(7) Statistik des Deutschen Reiches. 85. Band. Kriminalstatistik für das Jahr 1906.

(8) In Schweden kamen auf 100.000 Einwohner kriminelle Aborte zur gerichtlichen Untersuchung: 1851 bis 1880 3,04, 1881 bis 1890 6,66 und 1891 bis 1900 19,01. F. Prinzing, a.a.O., S. 44.

169

ist durchschnittlich die Kinderzahl eine so geringe und die Bevölkerungsvermehrung eine so langsame. Der französische Bourgeois wie der Kleinbürger und der Parzellenbauer befolgen dieses System, und der französische Arbeiter schließt sich ihnen an. In manchen Gegenden Deutschlands scheinen die eigenartigen bäuerlichen Verhältnisse zu ähnlichen Zuständen geführt zu haben. So gibt es eine reizende Gegend in Südwestdeutschland, in welcher in dem Garten eines jeden Bauernhofs der Sevenbaum steht, dessen Bestandteile als abortatives Mittel angewandt werden. In einem anderen Bezirk desselben Landes besteht schon längst unter den Bauern das Zweikindersystem; sie wollen ihre Höfe nicht teilen. Auffällig ist auch, in welchem Maße die Literatur in Deutschland an Umfang und Absatz zunimmt, in der Mittel für "fakultative Sterilität" behandelt und anempfohlen werden. Natürlich stets unter "wissenschaftlicher" Flagge und mit Hinweis auf die angeblich gefahrdrohende Überbevölkerung.

Neben dem Abortus und der künstlichen Verhinderung der Empfängnis spielt das Verbrechen eine Rolle. In Frankreich sind Kindermorde und Kinderaussetzungen im Steigen, beides befördert durch das Verbot des französischen Zivilgesetzes, nach der Vaterschaft zu forschen. Der § 340 des Code civil bestimmt: "La recherche de la paternité est interdite", dagegen der § 314: "La recherche de la maternité est admise." Nach der Vaterschaft eines Kindes zu forschen ist verboten, aber nach der Mutterschaft zu forschen gestattet, ein Gesetz, das unverhüllt die Ungerechtigkeit gegen die Verführte zum Ausdruck bringt. Die Männer Frankreichs können so viele Frauen und Mädchen verführen, als sie vermögen, sie sind von jeder Verantwortung frei und haben keine Alimente zu bezahlen. Diese Bestimmungen sind unter dem Vorwand erlassen worden, das weibliche Geschlecht müsse abgeschreckt werden, Männer zu verführen. Man sieht, es ist überall der schwache Mann, dieser Angehörige des starken Geschlechts, der verführt wird und nie verführt. Die Konsequenz des Artikels 340 des Code civil war der Artikel 312, der bestimmt: "L`enfant conçu pendant le mariage a pour père le mari" (das während der Ehe empfangene Kind hat den Ehemann zum Vater). Ist die Nachforschung nach der Vaterschaft verboten, so muß sich logischerweise der mit Hörnern gekrönte Ehemann auch gefallen lassen, daß er ein Kind, das seine Ehefrau von einem Fremden empfing, als das seine ansehen muß. Man kann der französischen Bourgeoisie wenigstens nicht

170

die Konsequenz absprechen. Alle Versuche, den Artikel 540 aufzuheben, sind bis jetzt gescheitert.

Andererseits suchte die französische Bourgeoisie die Grausamkeit, die sie beging, als sie durch Gesetz den betrogenen Frauen unmöglich machte, sich um Alimente an den Vater ihres Kindes zu wenden, durch die Gründung von Findelhäusern auszugleichen. Man nahm also dem Neugeborenen nicht nur den Vater, sondern auch die Mutter. Nach französischer Fiktion sind Findelkinder Waisenkinder, und so läßt die französische Bourgeoisie ihre unehelichen Kinder auf Staatskosten als "Kinder des Vaterlandes" erziehen. Eine herrliche Einrichtung. In Deutschland lenkt man auch mehr in französische Bahnen ein. Die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich enthalten über die Rechtsverhältnisse der unehelichen Kinder Grundsätze, die zum Teil mit dem früher geltenden humaneren Recht im Widerspruch stehen. So heißt es darin: "Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt." Dagegen dekretierte schon Kaiser Josef II. die Gleichstellung der unehelichen mit den ehelichen Kindern. "Keinen Vater hat das uneheliche Kind, für dessen Mutter die conceptio plurium (der Umgang mit mehreren Männern) in die Zeit der Empfängnis fällt." Der Leichtsinn, die Schwachheit oder Armut der Mutter wird an dem Kinde bestraft. Leichtsinnige Väter kennt das Gesetz nicht. "Die Mutter hat das Recht und die Pflicht, für die Person des unehelichen Kindes zu sorgen. Die elterliche Gewalt steht ihr nicht zu. Der Vater des unehelichen Kindes ist verpflichtet, dem Kinde bis zur Vollendung des sechzehnten Lebensjahres den der Lebensstellung der Mutter entsprechenden Unterhalt zu gewähren, einschließlich der Kosten der Erziehung und der Vorbildung. Diese Verpflichtung besteht für den Vater über das sechzehnte Lebensjahr des Kindes hinaus, wenn dieses infolge von Gebrechen unfähig ist, sich selbst zu erhalten. Der Vater ist verpflichtet, der Mutter die Kosten der Entbindung sowie die Kosten des Unterhalts für die ersten sechs Wochen nach der Entbindung und etwaige notwendige Aufwendungen als Folgen der Schwangerschaft oder der Entbindung zu ersetzen." Und so weiter. Nach dem preußischen Landrecht war aber eine außer der Ehe geschwängerte, unbescholtene ledige Frauensperson oder Witwe von dem Schwängerer nach dessen Stande und Vermögen abzufinden, doch durfte die Abfindungssumme den vierten Teil des Vermögens des Schwängerers nicht übersteigen. Dem

171

unehelichen Kinde stand ein Anspruch gegen den Vater auf Unterhalt und Erziehung zu, ohne Rücksicht darauf, ob die Mutter eine unbescholtene Person war, jedoch nur in dem Betrage, den die Erziehung eines ehelichen Kindes Leuten vom Bauern- oder gemeinen Bürgerstand kostete. Hatte der außereheliche geschlechtliche Verkehr unter der Zusage einer künftigen Ehe stattgefunden, so hatte der Richter der Geschwächten den Namen, Stand und Rang des Schwängerers sowie alle Rechte einer geschiedenen, für den unschuldigen Teil erklärten Ehefrau zuzuerkennen, und hatte in einem solchen Falle das uneheliche Kind die Rechte der aus einer vollgültigen Ehe erzeugten Kinder. Das hat nun aufgehört, Die Rückwärtserei ist in unserer Gesetzgebung Leitmotiv.

In der Periode von 1831 bis 1880 wurden vor den französischen Assisen 8.568 Kindesmorde verhandelt, und zwar stieg ihre Zahl von 471 in den Jahren 1831 bis 1835 auf 970 in den Jahren 1876 bis 1880. In demselben Zeitraum wurden über 1.032 Fälle Abortus abgeurteilt, und zwar im Jahre 1880 100.(9) Selbstverständlich kommt nur der kleinste Teil der Fälle von künstlichem Abortus zur Kenntnis der Gerichte, in der Regel nur, wenn schwere Erkrankungen oder Todesfälle folgen. Bei den Kindesmorden waren die Landbevölkerung mit 75 Prozent und beim Abortus die Städte mit 67 Prozent beteiligt. Die Frauen in der Stadt haben mehr Mittel an der Hand, die normale Geburt zu verhindern, daher viele Fälle von Abortus und verhältnismäßig wenig Kindesmorde. Auf dem Lande liegen die Verhältnisse umgekehrt. In Deutschland wurden wegen Kindesmordes verurteilt in den Jahren 1882 bis 1886 884, 1897 bis 1901 887, 1902 bis 1906 745 Personen.(10)

Das ist das Bild, das die heutige Gesellschaft in bezug auf ihre intimsten Beziehungen bietet. Es weicht stark ab von dem Gemälde, das poetische Phantasten von ihr entwerfen, nur hat es den Vorzug - wahr zu sein. Aber es müssen noch einige charakterisierende Pinselstriche hinzugefügt werden.

Trenner

(9) A. Pouzol, La recherche de la paternité. S. 134, 471. Paris 1902.

(10) Statistik des Deutschen Reiches. 185. Band.

172

3. Erziehung zur Ehe

Daß gegenwärtig das weibliche Geschlecht geistig im Durchschnitt unter dem männlichen steht, darüber dürfte keine Meinungsverschiedenheit bestehen. Balzac, der durchaus kein Frauenfreund war, behauptete zwar: "Eine Frau, die eine männliche Bildung erhalten, besitzt in der Tat die glänzendsten und fruchtbarsten Eigenschaften zur Begründung ihres eigenen Glückes und das ihres Gatten", und Goethe, der Frauen und Männer seiner Zeit gut kannte, äußert bissig in Wilhelm Meisters Lehrjahren (Bekenntnisse einer schönen Seele): "Man hat die gelehrten Weiber lächerlich gemacht, und man wollte auch die unterrichteten nicht leiden, wahrscheinlich, weil man für unhöflich hielt, so viel unwissende Männer zu beschämen", aber dadurch wird an der Tatsache, daß im allgemeinen die Frauen geistig hinter den Männern zurückstehen, nichts geändert. Dieser Unterschied muß auch vorhanden sein, weil die Frau nur ist, wozu sie der Mann als ihr Beherrscher gemacht hat. Die Bildung der Frau ist noch mehr als jene des Proletariers von jeher vernachlässigt worden, und was gegenwärtig Besseres geleistet wird, ist unzulänglich. Wir leben in einer Zeit, in der das Bedürfnis nach Ideenaustausch in allen Kreisen wächst, und da stellt sich die vernachlässigte geistige Ausbildung der Frau als ein großer Fehler heraus, der sich an dem Manne rächt.

Bei dem Manne richtet sich die Ausbildung, das behauptet man wenigstens, obgleich oft der Zweck durch die angewandten Mittel nicht erreicht wird, vielfach auch nicht erreicht werden soll, auf die Entwicklung des Verstandes, die Schärfung des Denkvermögens, die Erweiterung des realen Wissens und die Festigung der Willenskraft, kurz, auf die Ausbildung der Verstandesfunktionen. Hingegen erstreckt sich bei der Frau die Ausbildung der höheren Stände hauptsächlich auf die Vertiefung des Gemüts, auf formale und schöngeistige Bildung, durch die nur ihre Nervenreizbarkeit und Phantasie erhöht wird, wie Musik, Belletristik, Kunst, Poesie. Das ist das Verkehrteste, was geschehen kann. Hier zeigt sich, daß die Mächte, die über das Bildungsmaß der Frau zu bestimmen haben, sich nur leiten lassen von ihren Vorurteilen über das Wesen des weiblichen Charakters und die beschränkte Lebensstellung der Frau. Das Gemütsleben und die Phantasie der Frau darf nicht noch mehr entwickelt werden, was ihre Anlage zur Nervosität nur steigert, sondern es soll, so gut wie bei dem

173

Mann, auch bei ihr die Verstandestätigkeit entwickelt und sie mit den Erscheinungen des praktischen Lebens vertraut gemacht werden. Für beide Geschlechter wäre es von größtem Vorteil, besäße die Frau an Stelle überschüssigen Gemüts, das oft recht ungemütlich wird, eine gute Portion geschärften Verstandes und exakter Denkfähigkeit, an Stelle nervöser Überreiztheit und verschüchterten Wesens Charakterfestigkeit und physischen Mut, statt des schöngeistigen Wissens, soweit sie solches überhaupt besitzt, Kenntnis von Welt und Menschen und natürlichen Kräften.

Im allgemeinen ist bisher das Gemüts- und Seelenleben der Frau ins Maßlose genährt, hingegen ihre Verstandesentwicklung gehemmt, schwer vernachlässigt und unterdrückt worden. Sie leidet infolgedessen buchstäblich an Hypertrophie des Gemüts- und Geisteslebens und ist darum meist jedem Aberglauben und Wunderschwindel zugänglich, ein überdankbarer Boden für religiöse und sonstige Scharlatanerien, ein gefügiges Werkzeug für jede Reaktion. Die bornierte Männerwelt beklagt das häufig, weil sie darunter leidet, aber sie ändert es nicht, weil sie noch selbst in der großen Mehrheit bis über die Ohren in Vorurteilen steckt.

Dadurch, daß die Frauen fast allgemein wie geschildert sind, sehen sie die Welt anders als die Männer, und damit ist abermals eine starke Quelle von Differenzen zwischen beiden Geschlechtern geschaffen.

Die Beteiligung am öffentlichen Leben ist heute für jeden Mann eine seiner wesentlichsten Pflichten; daß viele Männer das noch nicht begreifen, ändert an der Sache nichts. Aber der Kreis derjenigen wird immer größer, die erkennen, daß die öffentlichen Institutionen im innigsten Zusammenhang stehen mit den privaten Beziehungen des einzelnen, daß Wohl und Wehe der Person und Familie weit mehr vom Zustand der öffentlichen Einrichtungen, als von persönlichen Eigenschaften und Handlungen abhängen. Man erkennt, daß - die höchste Kraftanstrengung des einzelnen gegen Mängel, die in dem Zustand der Dinge liegen und seine Lage bestimmen, machtlos ist. Andererseits erfordert der Kampf um die Existenz weit höhere Anstrengungen als früher. Es werden heute fast allgemein Anforderungen an den Mann gestellt, die deine Zeit und Kräfte in immer höherem Maße in Anspruch nehmen. Aber die unwissende, indifferente Frau steht ihm verständnislos gegenüber. Man kann sogar sagen, daß

174

die geistige Differenzierung zwischen Mann und Frau heute größer ist als früher, als die Verhältnisse noch kleine und enge waren und dem Verständnis der Frau näher lagen. Ferner nimmt gegenwärtig die Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten eine große Zahl Männer in einem früher nicht gekannten Maße in Anspruch, was ihren Gesichtskreis erweitert, sie aber auch dem häuslichen Kreise mehr und mehr entfremdet. Die Frau fühlt sich dadurch zurückgesetzt, und eine neue Quelle zu Differenzen ist geöffnet. Nur selten versteht der Mann, sich mit der Frau zu verständigen und die Frau zu überzeugen. In der Regel hat der Mann die Ansicht, daß, was er wolle, die Frau nichts angehe, sie verstehe es nicht. Er nimmt sich nicht die Mühe, sie aufzuklären. "Das verstehst du nicht", ist die stereotype Antwort, sobald die Frau klagt, daß er sie hintansetze. Das Nichtverständnis der Frauen wird durch den Unverstand der meisten Männer nur gefördert. Ein günstigeres Verhältnis bildet sich zwischen Mann und Frau im Proletariat heraus, insofern beide erkennen, daß sie an dem gleichen Strange ziehen und es für ihre menschenwürdige Zukunft nur ein Mittel gibt: die gründliche gesellschaftliche Umgestaltung, die alle zu freien Menschen macht. In dem Maße, wie diese Erkenntnis sich auch unter den Frauen des Proletariats immer mehr verbreitet, idealisiert sich, trotz Not und Elend. ihr Eheleben. Beide Teile haben jetzt ein gemeinsames Ziel, nach dem sie streben, und eine unversiegbare Quelle der Anregung durch den Meinungsaustausch, zu dem ihr gemeinsamer Kampf sie führt. Die Zahl der Proletarierfrauen, die zu dieser Erkenntnis kommt, wird mit jedem Jahre größer. Hier entwickelt sich eine Bewegung, die von ausschlaggebender Bedeutung für die Zukunft der Menschheit ist.

In anderen Ehen machen sich die Bildungs- und Anschauungsdifferenzen, die im Anfang der Ehe, wenn die Leidenschaft noch vorherrscht, leicht übersehen werden, in reiferen Jahren immer fühlbarer. Je mehr aber die geschlechtliche Leidenschaft erlischt, um so mehr sollte sie durch geistige Übereinstimmung ersetzt werden. Aber davon abgesehen, ob der Mann einen Begriff von staatsbürgerlichen Pflichten hat und sie erfüllt, er tritt schon durch seine berufliche Stellung und den beständigen Verkehr mit der Außenwelt in fortgesetzte Berührung mit den verschiedensten Elementen und Anschauungen bei den verschiedensten Gelegenheiten und kommt dadurch in eine geistige Atmosphäre, die seinen Gesichtskreis erweitert. Er befindet sich

175

meist, im Gegensatz zur Frau, in einer Art geistiger Mauserung, wohingegen der Frau durch die häusliche Tätigkeit, die sie von früh bis spät in Anspruch nimmt, die Zeit zur Ausbildung geraubt wird und sie so geistig versauert und verkümmert.

Diese häusliche Misere, in der die Mehrzahl der Ehefrauen in der Gegenwart lebt, schildert durchaus richtig der bürgerlich denkende Gerhard v. Amyntor in "Randglossen zum Buche des Lebens"(11). Dort heißt es in dem Kapitel "Tödliche Mückenstiche" unter anderem:

"Nicht die erschütternden Ereignisse, die für keinen ausbleiben und hier den Tod des Gatten, dort den moralischen Untergang eines geliebten Kindes bringen, hier in langer schwerer Krankheit, dort in dem Scheitern eines warm gehegten Planes bestehen, untergraben ihre (der Hausfrau) Frische und Kraft, sondern die kleinen, täglich wiederkehrenden, Mark und Knochen auffressenden Sorgen ... Wie viele Millionen braver Hausmütterchen verkochen und verscheuern ihren Lebensmut, ihre Rosenwangen und Schelmengrübchen im Dienste der häuslichen Sorgen, bis sie runzlige, vertrocknete, gebrochene Mumien geworden sind. Die ewig neue Frage: 'Was soll heute gekocht werden', die immer wiederkehrende Notwendigkeit des Fegens und Klopfens und Bürstens und Abstäubens ist der stetig fallende Tropfen, der langsam, aber sicher, Geist und Körper verzehrt. Der Kochherd ist der Ort, wo die traurigsten Bilanzen zwischen Einnahme und Ausgabe gezogen, die deprimierendsten Betrachtungen über die steigende Verteuerung der Lebensmittel und die immer schwieriger werdende Beschaffung der nötigen Geldmittel angestellt werden. Auf dem flammenden Altar, wo der Suppentopf brodelt, wird Jugend und Unbefangenheit, Schönheit und frohe Laune geopfert, und wer erkennt in der alten kummergebeugten, triefäugigen Köchin die einst blühende, übermütige, züchtigkokette Braut in dem Schmucke ihrer Myrtenkrone? - Schon den Alten war der Herd heilig, und neben ihm stellten sie ihre Laren und Schutzgötter auf - lasset auch uns den Herd heilig halten, auf dem die pflichtgetreue deutsche Bürgerfrau einen langsamen Opfertod stirbt, um das Haus behaglich, den Tisch gedeckt und die Familie gesund zu erhalten."

Das ist der Trost, den die bürgerliche Welt der an der gegenwärtigen Ordnung der Dinge elend zugrunde gehenden Frau bietet. Jene Frauen, die durch ihre sozialen Verhältnisse in freierer Stel-

Trenner

(11) Sam. Lucas, Elberfeld.

176

lung sich befinden, besitzen in der Regel eine einseitige und oberflächliche Erziehung, die in Verbindung mit ererbten weiblichen Charaktereigenschaften sich nachdrücklich geltend macht. Meist haben sie nur Sinn für reine Äußerlichkeiten, sie bekümmern sich nur um Tand und Putz und suchen in der Befriedigung eines verdorbenen Geschmacks und in der Frönung üppig wuchernder Leidenschaften ihren Lebenszweck. Für die Kinder und ihre Erziehung haben sie kaum Interesse; diese verursachen ihnen zu viel Mühe und Langeweile, und sie überlassen sie deshalb den Ammen und Dienstboten und überantworten sie später der Pension. Allenfalls betrachten sie als Aufgabe, die Töchter zu Zierpuppen und die Söhne für die jeunesse dorée (goldene Jugend) heranzubilden, aus der sich das Gigerltum rekrutiert, jene verächtliche Klasse von Männern, die man so ziemlich mit dem Zuhältertum auf eine Stufe stellen darf. Diese jeunesse dorée stellt auch ein Hauptkontingent zur Verführung der Töchter des arbeitenden Volkes, sie betrachtet Nichtstun und Verschwendung als Beruf.

Aus den geschilderten Zuständen haben sich mancherlei Charaktereigenschaften der Frau gebildet, die sich von Generation zu Generation immer vollkommener entwickelten. Die Männerwelt hält sich mit Vorliebe darüber auf, sie vergißt aber, daß sie selbst die Ursache ist und durch ihr Verhalten denselben Vorschub leistet. Zu diesen vielfach getadelten weiblichen Eigenschaften gehören die gefürchtete Zungenfertigkeit und Klatschsucht, die Neigung, über die nichtigsten und unbedeutendsten Dinge unendliche Unterhaltungen zu führen, die Gedankenrichtung auf das rein Äußerliche, die Putz- und Gefallsucht und der daraus folgende Hang für alle Modetorheiten; ferner leicht erregbarer Neid und Eifersucht gegen die Geschlechtsgenossinnen, die Neigung zur Unwahrheit und die Verstellungskunst. Diese Eigenschaften machen sich bei dem weiblichen Geschlecht allgemein, nur im Grade verschieden, schon im jugendlichen Alter bemerkbar. Es sind Eigenschaften, die unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse entstanden und durch Vererbung, Beispiel und Erziehung weiterentwickelt werden. Ein unvernünftig Erzogener kann andere nicht vernünftig erziehen. Um über Entstehungsursachen und Entwicklung der Eigenschaften bei den Geschlechtern und bei ganzen Völkern sich klarzuwerden, muß man nach derselben Methode verfahren, die die moderne Naturwissenschaft anwendet, um die Entstehung und Entwicklung der

177

Lebewesen und ihrer Charaktereigenschaften festzustellen. Es sind die materiellen Lebensbedingungen, die jedem Lebewesen in hohem Grade seine Charaktereigenschaften aufprägen; es wird genötigt, sich den vorhandenen Lebensbedingungen anzupassen, die schließlich zur Natur desselben werden.

Der Mensch macht keine Ausnahme von dem, was in der Natur für alle Lebewesen gilt (12); der Mensch steht nicht außerhalb der Naturgesetze, er ist, physiologisch betrachtet, das höchst entwickelte Tierwesen. Das will man allerdings nicht gelten lassen. Die Alten hatten schon vor Jahrtausenden, obgleich sie die moderne Naturwissenschaft nicht kannten, in vielen menschlichen Dingen vernünftigere Anschauungen als die Modernen, und die Hauptsache ist, sie wandten ihre auf Erfahrungen begründeten Anschauungen praktisch an. Man preist mit Bewunderung die Schönheit und Kraft der Männer und Frauen Griechenlands, übersieht aber, daß es nicht das glückliche Klima und die bezaubernde Natur des Landes an dem buchtenreichen Meere war, das auf Wesen und Entwicklung der Bevölkerung so günstig einwirkte, sondern daß es die mit Konsequenz von Staats wegen durchgeführten Körperausbildungs- und Erziehungsmaximen waren, darauf berechnet, Schönheit, Kraft und Gewandtheit mit Schärfe und Elastizität des Geistes zu verbinden. Allerdings wurde auch damals schon das Weib im Vergleich zum Mann in geistiger Beziehung vernachlässigt, aber nicht in bezug auf körperliche Entwicklung.(13) In Sparta, das am weitesten ging in der körperlichen Ausbildung beider Geschlechter, wandelten Knaben und Mädchen bis ins mannbare Alter nackt und übten sich gemeinsam in körperlichen Exerzitien, in Spielen und Ringkämpfen. Die nackte Schaustellung des menschlichen Körpers und die natürliche Behandlung des Natürlichen hatte die Wirkung, daß sinnliche Überreizungen, die vorzugsweise durch die Trennung des Verkehrs der beiden Geschlechter von Jugend auf künstlich erzeugt werden, nicht entstanden. Der Körper des einen Geschlechtes war dem anderen kein Geheimnis. Da konnte kein Spiel mit Zweideu-

Trenner

(12) Siehe das Urteil von Krafft-Ebing auf S. 132.

(13) Plato fordert in seinem "Staat", "daß die Frauen den Männern ähnlich erzogen werden", und verlangt sorgfältig vorgenommene Zuchtwahl; er kannte also die Wirkung sorgfältiger Auslese auch für die Entwicklung des Menschen. Aristoteles stellt in seiner "Politik" als Erziehungsgrundsatz auf: "Erst muß der Körper und dann der Verstand gebildet werden." Bei uns denkt man, wenn überhaupt, zuletzt an den Körper, der dem Verstand erst das Rüstzeug liefert.

178

tigkeiten aufkommen. Natur war Natur. Ein Geschlecht freute sich an den Schönheiten des anderen.

Und zu einem ungezwungenen, natürlichen Verkehr der Geschlechter muß die Menschheit zurückkehren, sie muß die jetzt herrschenden ungesunden spiritualistischen Anschauungen über den Menschen von sich werfen und Erziehungsmethoden schaffen, die eine physische und geistige Regeneration herbeiführen.

Bei uns herrschen, insbesondere über weibliche Erziehung, noch sehr rückständige Begriffe. Daß auch die Frau Kraft, Mut und Entschlossenheit haben soll, wird als ketzerisch, als "unweiblich" angesehen, obgleich niemand wird leugnen können, daß durch solche Eigenschaften sie sich vor vielen Unbilden und Unannehmlichkeiten schützen könnte.

Dahingegen wird ihre körperliche Entwicklung, genau wie ihre geistige, möglichst gehemmt, wobei auch die Unvernunft der Kleidung eine wesentliche Rolle spielt. Diese hemmt sie nicht nur in unverantwortlicher Weise in ihrer physischen Entwicklung, sie richtet sie oft direkt zugrunde, und doch wagen selbst die wenigsten Ärzte, dagegen einzuschreiten. Die Furcht, der Patientin zu mißfallen, veranlaßt sie zu schweigen, oder sie schmeicheln sogar ihren Verrücktheiten. Die moderne Kleidung hindert in hohem Grade die Frau an dem freien Gehrauch ihrer Kräfte, sie schädigt ihre körperliche Ausbildung und erweckt in ihr das Gefühl der Ohnmacht und der Schwäche. Auch ist diese Kleidung eine Gefahr für die Gesundheit ihrer Umgebung, denn die Frau ist in der Wohnung und auf der Straße eine wandelnde Stauberzeugerin. Die strenge Scheidung der Geschlechter in der Schule und im geselligen Verkehr, die ganz den spiritualistischen Anschauungen entspricht, die das Christentum uns tief eingepflanzt hat, hemmt ebenfalls die Entwicklung der Frau.

Die Frau, die nicht zur Entfaltung ihrer Anlagen und Fähigkeiten gelangt, im engsten Ideenkreis befangen gehalten wird und fast nur in Verkehr mit Angehörigen ihres Geschlechts kommt, kann sich unmöglich über das Alltägliche und Gewöhnliche erheben. Ihr geistiger Gesichtskreis dreht sich nur um die Vorgänge in ihrer nächsten Umgebung, um verwandtschaftliche Beziehungen und was damit zusammenhängt. Die breitspurige Unterhaltung um die größten Nichtigkeiten, die Neigung zur Klatschsucht wird dadurch mit aller Macht gefördert, denn die in ihr lebenden geistigen Eigenschaften drängen

179

nach Betätigung und Übung. Und der hierdurch oft in Unannehmlichkeiten verwickelte, zur Verzweiflung getriebene Mann verwünscht dann Eigenschaften, die er, das "Haupt der Schöpfung", hauptsächlich auf dem Gewissen hat.

Es soll nicht verkannt werden, daß neuerdings vielfach Ansätze zu vernünftigerer Lebensauffassung Platz greifen, aber es sind nur Anfänge, und sie berühren nur kleine Schichten der Gesellschaft.

4. Das Elend des heutigen Ehelebens

Durch unsere sozialen und geschlechtlichen Beziehungen ist die Frau mit allen Fasern ihrer Existenz auf die Ehe hingewiesen, ganz natürlich bilden Ehe- und Heiratsangelegenheiten einen wesentlichen Teil ihrer Unterhaltung und Aspiration. Auch ist für die physisch schwächere, durch Sitten und Gesetze dem Manne unterworfene Frau die Hauptwaffe gegen ihn die Zunge, und selbstverständlich benutzt sie dieselbe. Ähnlich verhält es sich mit der heftig getadelten Putz- und Gefallsucht, die ihre abschreckende Höhe in den immer exzentrischer werdenden Modetorheiten erreicht und oft Väter und Ehemänner in die größten Nöte und Verlegenheiten bringt. Die Erklärung hierfür liegt nahe. Die Frau ist für den Mann in erster Linie Genußobjekt; ökonomisch und gesellschaftlich unfrei, muß sie ihre Versorgung in der Ehe erblicken, sie hängt also vom Manne ab und wird ein Stück Eigentum von ihm. Ihre Lage wird noch ungünstiger dadurch, daß in der Regel die Zahl der Frauen größer ist als die der Männer - ein Kapitel, das noch näher besprochen werden wird. Durch dieses Mißverhältnis steigt die Konkurrenz der Frauen unter sich, die noch verstärkt wird, weil aus den verschiedensten Gründen eine Anzahl Männer nicht heiratet. Die Frau ist so genötigt, durch möglichst günstige Darstellung ihrer äußeren Erscheinung mit ihren Geschlechtsgenossinnen in den Wettbewerb um den Mann einzutreten.

Man beachte nun die lange Dauer dieser Mißverhältnisse, durch viele Generationen, und man wird sich nicht mehr wundern, daß diese Erscheinungen bei dauernd wirkenden gleichen Ursachen ihre heutige extreme Gestalt angenommen haben. Dazu kommt, daß vielleicht in keinem Zeitalter der Konkurrenzkampf der Frauen um die Männer so heftig war als im gegenwärtigen, teils aus schon angeführten, teils

180

aus noch zu erörternden Ursachen. Auch weisen sowohl die immer größeren Schwierigkeiten, eine auskömmliche Existenz zu erlangen, als auch die steigenden gesellschaftlichen Anforderungen die Frau mehr als je zuvor auf die Ehe als "Versorgungsanstalt" hin.

Die Männer lassen sich diesen Zustand gerne gefallen, denn sie ziehen die Vorteile daraus. Es sagt ihrem Stolz, ihrer Eitelkeit und ihrem Interesse zu, die Rolle des Herrn zu spielen, und in dieser Herrscherrolle sind sie, wie alle Herrschenden, schwer Vernunftgründen zugänglich. Um so mehr liegt es im Interesse der Frauen, sich für Herstellung von Zuständen zu erwärmen, die sie aus dieser entwürdigenden Stellung befreien. Die Frauen dürfen so wenig auf die Hilfe der Männer warten, wie die Arbeiter auf die Hilfe der Bourgeoisie warteten.

Erwägt man ferner, welche Charaktereigenschaften der Kampf um die bevorzugte Stellung auch auf anderen Gebieten, zum Beispiel auf dem industriellen, zur Entfaltung bringt, sobald die Unternehmer sich gegenüberstehen, mit welch niederträchtigen, selbst schurkenhaften Mitteln gekämpft wird, wie Haß, Neid und Verleumdungssucht geweckt werden, so hat man die Erklärung für die Tatsache, daß sich in dem Konkurrenzkampf der Frauen um die Männer ähnliche Charaktereigenschaften zeigen. Daher kommt es, daß sich Frauen durchschnittlich weniger miteinander vertragen als Männer, daß sogar die besten Freundinnen leicht in Streit geraten, handelt es sich um das Ansehen bei einem Manne, um die einnehmendere Persönlichkeit usw. Daher auch die Wahrnehmung, daß, wo immer Frauen sich begegnen, und seien sie sich wildfremd, sie sich in der Regel wie zwei Feinde ansehen. Mit einem einzigen Blick haben sie gegenseitig entdeckt, wo die andere eine unpassende Farbe anwandte oder eine Schleife unrichtig anbrachte oder ein ähnliches Kardinalvergehen beging. In den Blicken, mit denen beide sich begegnen, liegt unwillkürlich das Urteil zu lesen, das die eine über die andere fällt. Es ist, als wollte jede zu der anderen sagen: "Ich verstehe es doch besser als du, mich zu putzen und die Blicke auf mich zu lenken."

Andererseits ist die Frau von Natur impulsiver als der Mann, sie reflektiert weniger als dieser, sie ist selbstloser, naiver, daher ist sie von größerer Leidenschaftlichkeit beherrscht, die sich in der wahrhaft heroischen Aufopferung, mit der sie für ihr Kind eintritt oder für Angehörige sorgt und sie in Krankheitsfällen pflegt, im schönsten

181

Lichte zeigt. In der Furie dagegen findet diese Leidenschaftlichkeit ihren häßlichen Ausdruck. Aber die guten wie die schlimmen Seiten werden in erster Linie durch die soziale Stellung beeinflußt, begünstigt, gehemmt oder umgewandelt. Derselbe Trieb, der unter ungünstigen Verhältnissen als ein Fehler sich darstellt, wird unter günstigen eine Quelle des Glücks für die Person und für andere. Fourier hat das Verdienst, den Nachweis glänzend geführt zu haben, wie ein und dieselben Triebe des Menschen unter verschiedenen Verhältnissen ganz entgegengesetzte Resultate erzeugen.(14)

Neben den Einwirkungen einer verkehrten geistigen Erziehung laufen nicht minder wichtige Einwirkungen von verkehrter oder mangelnder physischer Erziehung, in Rücksicht auf den Naturzweck. Alle Ärzte stimmen darin überein, daß die Vorbildung der Frau für ihren Beruf als Mutter und Kindererzieherin fast alles zu wünschen übrig läßt. "Man übt den Soldaten in der Führung seiner Waffe und den Handwerker in der Handhabung seiner Werkzeuge, jedes Amt erfordert seine Studien; selbst der Mönch hat sein Noviziat. Nur die Frau wird für ihre ernsten Mutterpflichten nicht erzogen."(15) Neun Zehntel der Jungfrauen, die zu heiraten Gelegenheit bekommen, treten mit fast vollkommener Unwissenheit über die Mutterschaft und ihre Pflichten in die Ehe. Die unverantwortliche Scheu selbst der Mütter, mit der erwachsenen Tochter über die so wichtigen geschlechtlichen Funktionen zu sprechen, läßt sie über ihre Pflichten gegen sich und ihren Gatten in der schwärzesten Unwissenheit. Mit dem Eintritt in die Ehe betritt die Frau in der Regel ein ihr vollkommen fremdes Gebiet; sie hat sich davon ein Phantasiegemälde entworfen, meist aus Romanen der nicht empfehlenswertesten Art, das zu der Wirklichkeit sehr wenig paßt.(16) Die mangelnden Wirtschaftskenntnisse, die, wie

Trenner

(14) A. Bebel, Charles Fourier, sein Leben und seine Theorien. Stuttgart 1907, J. H. W. Dietz.

(15) Irma v. Troll-Bornstyani, Die Mission unseres Jahrhunderts. Eine Studie zur Frauenfrage. Preßburg und Leipzig.

(16) In "Les femmes qui tuent et les femmes qui votent" erzählt Alexandre Dumas Sohn, ein hochgestellter katholischer Geistlicher habe ihm in einer Unterhaltung mitgeteilt, daß von hundert seiner früheren weiblichen Zöglinge, die sich verheirateten, nach Verlauf eines Monats wenigstens achtzig zu ihm kamen und ihm sagten, sie seien von der Ehe enttäuscht, sie bereuten, geheiratet zu haben. Das klingt sehr wahrscheinlich. Die voltairianisch gesinnte französische Bourgeoisie findet es mit ihrem Gewissen vereinbar, ihre Töchter in den Klöstern erziehen zu lassen, sie geht von der Ansicht aus, eine unwissende Frau sei leichter zu leiten als eine wissende. Da müssen Konflikte und Enttäuschungen entstehen. Rät doch Laboulaye direkt, die Frauen in mäßiger Unwissenheit zu erhalten, denn "notre empire est détruit, si l`homme est reconnu" (unsere Herrschaft ist zerstört, sobald der Mann erkannt ist).

182

noch die Dinge liegen, für die Ehe notwendig sind, wenn auch viele früher als selbstverständlich angesehene Tätigkeiten der Frau abgenommen wurden, geben ebenfalls manchen Anlaß zu Differenzen. Die einen verstehen von der Wirtschaft nichts, weil sie sich zu gut dafür halten, sich darum zu bekümmern, und meinen, das sei Sache der Dienstboten; die anderen, aus den breiten Massen, verhindert der Kampf um die Existenz, sich für den Beruf als Wirtschaftlerinnen auszubilden, sie müssen von früh bis spät in die Werkstatt oder Fabrik. Es zeigt sich immer mehr, daß die Einzelwirtschaft durch die Entwicklung der Verhältnisse ihren Boden verliert und nur durch unsinnige Opfer an Geld und Zeit aufrechterhalten wird.

Eine andere Ursache, die für nicht wenige Männer den Ehezweck aufhebt, liegt in der physischen Entwicklung vieler Frauen. Unsere Nahrungs-, Wohn-, Arbeits- und Unterhaltungsweise, kurz die ganze Lebensweise wirkt vielfach mehr zerstörend als fördernd auf uns ein. Mit Fug und Recht kann man von einem nervösen Zeitalter sprechen; aber die Nervosität geht Hand in Hand mit physischer Degeneration. Anämie (Blutarmut) und Nervosität sind namentlich bei dem weiblichen Geschlecht in ganz enormem Maße verbreitet. Diese werden immer mehr zu einer gesellschaftlichen Kalamität, die, falls sie noch einige Generationen währte, ohne daß es gelingt, unsere gesellschaftliche Organisation auf normalere Entwicklungsbedingungen zu stellen, unser Geschlecht dem Verderben entgegenführte.(17)

Der weibliche Organismus bedarf in Rücksicht auf den Geschlechtszweck ganz besonderer Pflege, namentlich guter Ernährung und in besonderen Perioden auch auskömmlicher Schonung. Beides ist für die

Trenner

(17) Die progressive Paralyse (Gehirnerweichung) nimmt weit rascher zu unter den Frauen als unter den Männern. Es kamen zum Beispiel in Preußen Erkrankungen an paralytischer Seelenstörung auf je 100 Aufnahmen:

  Männer Frauen   Männer Frauen
1876-1879 17,0 3,7 1895-1897 18,5 7,6
1880-1891 17,3 5,4 1898-1901 16,2 7,5
1892-1894 17,7 6,8      

Siehe F. Prinzing, a.a.O., S. 177.

183

sehr große Mehrzahl des weiblichen Geschlechtes nicht vorhanden und unter den heutigen Verhältnissen auch kaum zu schaffen. Auch hat sich die Frau so an die Bedürfnislosigkeit gewöhnt, daß zum Beispiel zahllose Frauen es für eine eheliche Pflicht halten, die guten Bissen dem Manne vorzusetzen und sich selbst mit dürftiger Nahrung zu begnügen. Ebenso werden häufig die Knaben in der Ernährung vor den Mädchen bevorzugt. Der Glaube ist allgemein verbreitet, daß sich die Frau nicht nur mit weniger, sondern auch mit schlechterer Nahrung begnügen könne als der Mann. Daher das traurige Bild, das insbesondere unsere weibliche Jugend dem Sachverständigen bietet.(18) Ein großer Teil unserer jungen Frauen ist körperlich schwach, blutarm, extrem nervös. Die Folgen sind Menstruationsbeschwerden, Krankheiten der Organe, die mit dem Geschlechtszweck in Verbindung stehen, die sich oft bis zur Unfähigkeit oder Lebensgefährlichkeit, Kinder zu gebären oder zu säugen, steigern. "Wenn diese Degeneration unserer Frauen noch weiterhin in derselben Weise wie bisher fortschreiten sollte, so dürfte der Zeitpunkt nicht mehr fern sein, wo es zweifelhaft werden könnte, ob die Kulturmenschen noch länger zu den Säugetieren zu zählen seien oder nicht."(19) Statt einer gesunden und heiteren Gefährtin, einer fähigen Mutter, einer ihren häuslichen Obliegenheiten nachkommenden Gattin hat der Mann eine kranke, nervöse Frau, bei welcher der Arzt nicht aus dem Hause kommt, die keinen Luftzug und nicht das geringste Geräusch vertragen kann. Wir wollen uns über diesen Gegenstand nicht weiter verbreiten, jeder kann sich das Bild weiter ausmalen; im eigenen Familien- und Bekanntenkreise gibt es Beispiele in Fülle.

Erfahrene Ärzte versichern, die größere Hälfte der Ehefrauen, namentlich in den Städten, befinde sich in mehr oder weniger anormalen Zuständen. Nach dem Grade der Übel und dem Charakter der Eheleute müssen solche Verbindungen unglückliche sein, und sie geben in der öffentlichen Meinung dem Manne das Recht, sich außereheliche Freiheiten zu erlauben, deren Kenntnis die unglücklichste Stimmung bei der Frau erzeugen müssen. Auch sind manchmal die sehr verschiedenen geschlechtlichen Anforderungen des einen oder

Trenner

(18) Ausführlicheres hierüber in "Das Frauenbuch" von Frau H. S. Adams, Dr. med., Stuttgart.

(19) Dr. F. B. Simon, Die Gesundheitspflege des Weibes. 7. Auflage, S. 240. Stuttgart 1909, J. H. W. Dietz.

184

anderen Teils Veranlassung zu tiefgehenden Differenzen, ohne daß die so wünschbare Trennung möglich wäre.

Hierbei darf nicht verschwiegen werden, daß ein erheblicher Teil der Männer der schuldige Teil ist an den schweren physischen Leiden, von welchen ihre Frauen in der Ehe betroffen werden. Ein erheblicher Teil der Männerwelt leidet infolge von Ausschweifungen an chronischen Geschlechtskrankheiten, die oft, weil sie ihnen keine großen Unbequemlichkeiten verursachen, auf die leichte Achsel genommen werden. Aber im geschlechtlichen Verkehr mit der Frau erzeugen sie bei dieser sehr unangenehme und verhängnisvoll wirkende Unterleibskrankheiten, die alsbald nach der Eheschließung sich einstellen und häufig bis zur Unfähigkeit, zu empfangen oder Kinder zu gebären, sich steigern. Gewöhnlich hat die unglückliche Frau keine Ahnung von der wahren Ursache ihrer Krankheit, die ihr Gemüt bedrückt, ihr das Leben verbittert und den Zweck der Ehe zerstört, und sie macht sich und empfängt Vorwürfe über einen Zustand, den der andere Teil verschuldete. Manches blühende Weib verfällt nach kaum geschlossener Ehe chronischem Siechtum, für das weder sie noch die Angehörigen eine Erklärung haben, denn der Arzt muß schweigen.

Wie neuere Untersuchungen ergeben haben, ist dieser Umstand - daß infolge von Gonorrhöe die Samenflüssigkeit des Mannes keine Samenzellen mehr enthält und daher der Mann zeitlebens unfähig ist, Kinder zu zeugen - eine verhältnismäßig häufige Ursache ehelicher Unfruchtbarkeit, im Gegensatz zu der alten bequemen Tradition der Herren der Schöpfung, welche immer bereit sind, die Schuld an dem mangelnden Kindersegen auf die Frau abzuwälzen.(20)

Man sieht, es sind eine große Menge Ursachen wirksam, die in der überwiegenden Zahl der Fälle das heutige Eheleben nicht zu dem werden lassen, was es sein soll. Es ist also immerhin eine Anweisung von zweifelhaftem Wert, wenn selbst Gelehrte die Emanzipationsbestrebungen der Frau damit abgetan glauben, daß sie dieselbe auf die Ehe verweisen, die durch unsere sozialen Zustände immer mehr zu einem Zerrbild wird und immer weniger ihrem wahren Zweck entspricht.

Trenner

(20) Dr. F. B. Simon, a.a.O., S. 267. Simon widmet diesem und dem verwandten Thema, warum so viele Ehefrauen nach der Hochzeit krank werden, ohne zu wissen woher, eine ausführliche Besprechung, in der namentlich unserer Männerwelt der Spiegel vorgehalten wird.



Datum der letzten Änderung : Jena, den : 03.02.2013