Fundamentalgruppe
Die Fundamentalgruppe dient in der algebraischen Topologie zur Untersuchung geometrischer Objekte beziehungsweise topologischer Räume. Jedem topologischen Raum kann eine Fundamentalgruppe zugeordnet werden. Sie selbst ist jedoch ein Objekt aus der Algebra und kann auch mit Methoden dieser untersucht werden. Haben zwei topologische Räume unterschiedliche Fundamentalgruppen, so schließt man daraus, dass die zwei Räume topologisch verschieden, das heißt nicht homöomorph, sind. Henri Poincaré führte 1895 als erster das Konzept der Fundamentalgruppe ein.
Anschauliche Erklärung am Beispiel des Torus
![](bilder/Fundamental_group_torus1.png)
![](bilder/Fundamental_group_torus2.png)
![](bilder/Fundamental_group_torus3.png)
Zunächst soll an einem Beispiel die Idee der Fundamentalgruppe erklärt werden: Als topologischer Raum wird der (zweidimensionale) Torus betrachtet und darauf ein Basispunkt markiert.
Von diesem Punkt aus gibt es Schleifen, das heißt geschlossene Kurven, die im Basispunkt starten, auf der Torusoberfläche verlaufen und wieder im Basispunkt enden. Manche der Schleifen lassen sich auf dem Torus zu einem Punkt zusammenziehen, andere nicht. Dazu stelle man sich vor, dass die Schleifen aus Gummi sind und beliebig gedehnt, gestaucht und verschoben werden dürfen, allerdings immer so, dass Anfang und Ende im Basispunkt festbleiben und die Schleifen immer auf dem Torus bleiben müssen (also nur auf der Oberfläche und nicht durch den „Teig“ des Donuts verlaufen). Eine solche Verformung nennt man Homotopie; man sagt auch, eine Schleife wird homotopiert. Zwei Schleifen, die sich durch eine Homotopie ineinander überführen lassen, nennt man homotop.
Alle Schleifen, die homotop zueinander sind, fasst man zu einer Homotopieklasse zusammen. Die verschiedenen Homotopieklassen bilden die Elemente der Fundamentalgruppe.
Die beiden Schleifen
und
in der Abbildung rechts gehören zum Beispiel zu verschiedenen Homotopieklassen:
Sie lassen sich nicht ineinander verformen und beschreiben daher
unterschiedliche Elemente der Fundamentalgruppe. Weitere Elemente bekommt man,
indem man eine der beiden Schleifen mehrfach durchläuft, bevor man die Schleife
schließt: Eine Schleife, die zweimal um das Loch herumläuft, lässt sich nicht in
eine verformen, die dreimal darum herumführt, usw.
Ganz allgemein lassen sich zwei Schleifen zu einer dritten kombinieren, indem man erst die eine, dann die andere durchläuft, also das Ende der ersten mit dem Anfang der zweiten verknüpft (da die Verknüpfungsstelle jetzt ein innerer Punkt der Schleife ist, muss sie nicht mehr unbedingt auf dem Basispunkt liegen bleiben, sondern darf von ihm auch weggeschoben werden). Mit dieser Verknüpfung wird aus der Menge der Homotopieklassen eine Gruppe, die sogenannte Fundamentalgruppe. Das neutrale Element ist die Klasse der Schleifen, die sich auf den Basispunkt zusammenziehen lassen. Das inverse Element zu einer Klasse von Schleifen erhält man, indem man diese rückwärts durchläuft.
Mathematische Definition
Sei
ein topologischer
Raum und
ein Basispunkt in
.
Eine Schleife ist eine stetige Abbildung
,
die
mit sich selbst verbindet, d.h.
.
Eine Homotopie
zwischen zwei Schleifen
und
ist eine stetige Familie von Schleifen, die beide Schleifen verbindet,
d.h.:
ist eine stetige Abbildung mit den Eigenschaften
und
.
Der erste Parameter
von
beschreibt den Fortschritt der Schleifenverformung (
entspricht
und
entspricht
).
Der zweite Parameter
entspricht dem ursprünglichen Schleifenparameter.
Zwei Schleifen heißen homotop, wenn es eine Homotopie
zwischen ihnen gibt. Die Homotopie zwischen Schleifen definiert eine Äquivalenzrelation
und die Äquivalenzklassen
bezeichnet man als Homotopieklassen. Die Menge der Homotopieklassen
bildet die Fundamentalgruppe
von
mit dem Basispunkt
.
Die Gruppenstruktur erhält man durch die oben angegebene Verknüpfung, also durch Aneinanderhängen von Schleifen:
mit
.
Da man aus Homotopien zwischen verschiedenen Repräsentanten auch eine Homotopie zwischen den verknüpften Schleifen konstruieren kann, ist die resultierende Homotopieklasse unabhängig von der Wahl der jeweiligen Repräsentanten.
Das neutrale Element der Fundamentalgruppe
ist die Homotopieklasse
der konstanten Schleife
und das inverse Element der Homotopieklasse
ist die Homotopieklasse
der Schleife
,
die die Schleife
rückwärts durchläuft. Geschlossene Kurven, welche zur Homotopieklasse der
konstanten Abbildung gehören, also das neutrale Element der Fundamentalgruppe
repräsentieren, werden auch als zusammenziehbare oder nullhomotope
Kurven bezeichnet.
Unabhängigkeit vom Basispunkt
Da alle Schleifen am Basispunkt
beginnen, misst die Fundamentalgruppe
nur Eigenschaften der Wegzusammenhangskomponente von
.
Daher ist es sinnvoll, anzunehmen, dass
wegzusammenhängend
ist. Dann ist jedoch auch die Wahl des Basispunktes für die Fundamentalgruppe
nicht wesentlich. Es gibt vielmehr einen Gruppenisomorphismus
,
wenn
und
durch eine Kurve
verbunden sind. Dieser Gruppenisomorphismus ist definiert durch
.
Während sich die Schleifen
und
unterscheiden, sind sie dennoch homotop und der Gruppenisomorphismus kann über
beide Schleifen definiert werden.
Ist
also wegzusammenhängend, spricht man allgemein von
und lässt den Basispunkt weg. Ist dagegen
nicht wegzusammenhängend, so kann die Fundamentalgruppe durchaus vom gewählten
Basispunkt
abhängen. Nach obigem Argument ist die Fundamentalgruppe
dann aber nur abhängig von der Wegzusammenhangskomponente von
.
Beispiele
- Auf einer Sphäre
ab Dimension 2 lässt sich jede Schleife auf einen Punkt zusammenziehen. Daher
ist die Fundamentalgruppe der Sphäre trivial,
(für
).
- Der oben beschriebene Torus besitzt die Fundamentalgruppe
: Die beiden Schleifen
und
sind Erzeuger der Fundamentalgruppe. Sie ist in diesem Fall abelsch: Die Schleife
lässt sich auf einen Punkt zusammenziehen (schneidet man den Torus entlang von
und
auf, so erhält man ein Viereck, dessen Randkurve genau
ist und sich im Innern des Vierecks zusammenziehen lässt). Deshalb gilt
, also
.
- Für einen
-dimensionalen Torus gilt
.
- Die zweidimensionale Ebene mit einem Loch
hat die Fundamentalgruppe
, genauso wie die 1-Sphäre (ein einfacher Kreis). Die Homotopieklasse einer Schleife ist dadurch festgelegt, wie oft die Schleife um das Loch herumläuft (z.B. im Uhrzeigersinn).
- Die zweidimensionale Ebene mit zwei Löchern hat als Fundamentalgruppe eine freie Gruppe in zwei Erzeugern, nämlich den beiden Schleifen, die einmal um eines der Löcher herumlaufen. Diese Gruppe ist nicht abelsch.
- Fundamentalgruppen müssen nicht torsionsfrei
sein: so sind die Fundamentalgruppen der reellen projektiven
Ebene oder der Gruppe der
Drehungen im Raum,
, isomorph zu
, der zyklischen Gruppe der Ordnung 2.
- Man kann zeigen, dass es zu jeder Gruppe
einen so genannten klassifizierenden Raum
gibt, dessen Fundamentalgruppe isomorph zu
ist.
- Die Fundamentalgruppe eines Knotenkomplements wird als Knotengruppe bezeichnet. Sie kann mit dem Wirtinger-Algorithmus berechnet werden.
Eigenschaften und Anwendungen
Überlagerungen
Die Fundamentalgruppe spielt eine entscheidende Rolle bei der Klassifikation von Überlagerungen. Für Räume, die eine universelle Überlagerung besitzen, ist die Fundamentalgruppe isomorph zur Decktransformationsgruppe der universellen Überlagerung. Dieser Isomorphismus ist eines der wichtigsten Hilfsmittel zur Berechnung der Fundamentalgruppe.
Satz von Seifert-van-Kampen
Ein wichtiges Hilfsmittel zur Berechnung der Fundamentalgruppe ist auch der
Satz von Seifert-van-Kampen, der es erlaubt, den Raum
in sich überlappende Bereiche zu zerlegen und die Fundamentalgruppe von
aus den (einfacheren) Fundamentalgruppen der Bereiche und der Überlappung
auszurechnen.
Folgerungen aus bestimmten Fundamentalgruppen
Die Kenntnis der Fundamentalgruppe erlaubt oft Rückschlüsse auf den topologischen Raum. Hat zum Beispiel eine Mannigfaltigkeit eine endliche Fundamentalgruppe, so kann sie keine Metrik tragen, die überall nichtpositive Krümmung hat. Die einzige geschlossene Fläche mit trivialer Fundamentalgruppe ist die Sphäre. Die mittlerweile bewiesene Poincaré-Vermutung besagt, dass eine analoge Aussage auch für dreidimensionale Mannigfaltigkeiten gilt.
Zusammenhang mit Homologie
Im allgemeinen Fall braucht die Fundamentalgruppe nicht (wie beim Torus) abelsch zu sein. Man kann sie aber abelsch „machen“, indem man die Kommutatorgruppe herausteilt. Die Gruppe, die man dann erhält, ist für wegzusammenhängende Räume isomorph zur ersten Homologiegruppe.
Verallgemeinerungen
Die Fundamentalgruppe ist die erste Homotopiegruppe,
daher kommt auch die Bezeichnung .
Da die Definition eindimensionale Schleifen benutzt, kann die Fundamentalgruppe
nur die eindimensionale topologische Struktur erkennen. Ein Loch in einer
zweidimensionalen Fläche lässt sich durch Schleifen feststellen, ein Loch im
dreidimensionalen Raum (etwa
)
jedoch nicht: sie lassen sich daran vorbeiziehen.
Die Verallgemeinerung zur -ten
Homotopiegruppen
benutzt daher statt Schleifen Sphären der Dimension
.
Falls ,
so besagt der Satz
von Hurewicz (nach Witold Hurewicz), dass die erste nichttriviale Homotopiegruppe mit der
ersten nichttrivialen Homologiegruppe
übereinstimmt.
Mit
bezeichnet man keine Gruppe, sondern nur die Menge der Wegzusammenhangskomponenten
von
.
Da man eine Homotopie als Weg im Schleifenraum
verstehen kann, wird über
der Zusammenhang zwischen
und
hergestellt.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 28.12. 2019